Skript 1: Grundlagen der DBT-Gruppe


Allgemeine Zielsetzung des Gruppenprogramms


Wissen erarbeiten!

Wir möchten mit Ihnen zusammen das erarbeiten, was heute als einigermaßen gesichertes Wissen über Borderline-Persönlichkeitsstörungen betrachtet werden kann.

Eigene Handlungsmöglichkeiten erkennen und neue Fähigkeiten aufbauen!

Wir möchten, daß Sie erkennen, welchen Teil Sie selbst dazu beitragen können, seelisch stabil zu bleiben. Und wir möchten, daß Sie neue Fähigkeiten aufbauen, die Ihnen helfen, mit emotional belastenden Situationen umzugehen und Ihre Lebensqualität zu verbessern.

Krisen aktiv bewältigen lernen!

Wir möchten mit Ihnen erarbeiten, welche konkreten Maßnahmen Sie im Fall einer Krise ergreifen können, um selbstverletzendem oder suizidalem Verhalten vorzubeugen.


Rahmenbedingungen der Gruppe


Die DBT-Gruppe wird vom Behandler in Absprache mit dem Behandlungsteam verordnet. Die Einzeltherapie steht im Mittelpunkt aller anderen Therapieangebote. Die Basisgruppe DBT wird von der Einzeltherapeutin in Absprache mit dem Behandlungsteam verordnet; sie ist keine eigenständige Therapie. PatientInnen, die keine Gruppenbehandlung wünschen und PatientInnen, die nicht bereit oder in der Lage sind, suizidale Verhaltensweisen zu reduzieren oder therapiegefährdende Verhaltensweisen zu unterlassen, werden nicht in die Gruppe aufgenommen. PatientInnen, die ihre Einzelbehandlung abbrechen, können auch nicht mehr an der Gruppe teilnehmen.


Die TeilnehmerInnen gehen die Verpflichtung ein, an allen vereinbarten Therapiesitzungen teilzunehmen. Jede Patientin, der vier Wochen hintereinander nicht an der Gruppe teilnimmt, wird von der Gruppe ausgeschlossen. Als Nichtteilnahme gelten auch genehmigte Beurlaubungen, Verlegungen zum vollstationären Bereich, und ”innere Abwesenheiten” in Form von Drogeneinnahmen, Dissoziationen, Panikattacken, komplett fehlender Mitarbeit oder andere massive Störungen. Eine erneute Teilnahme ist Verhandlungssache und kann jedenfalls erst nach einer ”Sperrfrist” (in der Regel mehrere Monate) aufgenommen werden.


In der Gruppe, die von zwei ModeratorInnen geleitet wird, befinden sich normalerweise 6-8 GruppenteilnehmerInnen. Für die Durchführung einer Gruppe sind jedoch schon zwei PatientInnen ausreichend. Die Gruppe findet einmal wöchentlich mit einer Dauer von 60-90 Minuten statt. Die Gruppe ist offen, so daß jederzeit neue TeilnehmerInnen aufgenommen werden können. Die Basisthemen werden 2-3 mal im Jahr wiederholt, je nach Anzahl neuer Gruppenmitglieder. Die Abfolge der offenen Themen wird den Bedürfnissen der TeilnehmerInnen angepaßt.


Die Gruppenteilnahme unterliegt einer zeitlichen Begrenzung. In der Regel endet die Teilnahme mit Beendigung der tagesklinischen Behandlung. Eine weitere Teilnahme ist nur dann möglich, wenn die Einzelbehandlung im Rahmen der Institutsambulanz fortgesetzt wird. Auch im Fall einer langfristigen Institutsambulanzbehandlung endet die Teilnahme an der Basisgruppe nach spätestens einem Jahr.


Grundzüge der DBT


Die Grundzüge der Dialektisch Behavioralen Therapie (DBT), die von der Psychologin Marsha Linehan in den USA entwickelt wurde, sind sehr simpel. Die Therapeutin schafft ein Umfeld, in dem die Patientin nicht beschuldigt, sondern validiert wird. ”Validieren” ist ein spezieller Ausdruck, der sich auf Gefühle bezieht und ungefähr: ”annehmen” oder ”wertschätzen” bedeutet. In diesem Umfeld blockiert oder löscht die Therapie weniger hilfreiche oder selbstschädigende Verhaltensweisen und ruft stattdessen hilfreiche Verhaltensweisen hervor.


Neben der Validierung besteht die zweite Kernstrategie der DBT im Lösen von Problemen. Aus der Sicht der PatientInnen sind ihre problematischen Verhaltensweisen Problemlöseversuche. Aus der Perspektive der DBT hingegen sind diese Verhaltensweisen selbst das zu lösende Problem. Eine notwendige Voraussetzung auf Seiten der Patientin ist die zumindestens ansatzweise vorhandene Bereitschaft, die Zielverhaltensweisen zu verändern.


In der Einzelbehandlung werden die hilfreichen und die weniger hilfreichen Verhaltensweisen zu Beginn festgehalten und in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit aufgelistet. Die DBT folgt sehr genauen Regeln bezüglich der Reihenfolge und Wichtigkeit verschiedener Behandlungsziele. An erster Stelle stehen suizidale, parasuizidale und lebensbedrohende Verhaltensweisen. Es folgen Verhaltensweisen, die den Fortschritt der Therapie gefährden. An dritter Stelle der Rangliste stehen Probleme, die das Erreichen einer angemessenen Lebensqualität verhindern. Im Verlauf der Therapie erlernt die Patientin neue Bewältigungsstrategien, die sie anstelle der gewohnten ungünstigen Reaktionen einsetzen kann. Die Stabilisierung dieser Verhaltensfertigkeiten steht an vierter Stelle. Erst wenn die Patientin Fortschritte im Erreichen dieser Ziele gemacht hat, steht das Bearbeiten möglicher Belastungen und Konflikte im Vordergrund. Daran schließen sich dann Hilfestellung beim Erlernen von Selbstvalidierung und Selbstrespekt an.


Themenübersicht


Basisthemen (2.-7. Stunde)

Erarbeiten von Wissen über Borderline-Persönlichkeitsstörungen (BPS) und über das Konzept der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) nach Linehan.

Grundlagen der DBT-Gruppe

Grundannahmen der DBT

Hauptmerkmale der BPS

Typische Verhaltensweisen bei BPS

Biosoziale Theorie der BPS

Kognitive Theorie der BPS

Behandlungskonzept der DBT


Mögliche weitere Themen (Liste offen)

Vertiefung von Wissen über Behandlungsmöglichkeiten. Vermittlung von Fertigkeiten zur Streßreduktion, zum Umgang mit Gefühlen, zur Verbesserung sozialer Kompetenzen und zur Bewältigung von Krisen.

Achtsamkeitsübungen

Grundlagen der Verhaltenstherapie /Erstellen von Verhaltensanalysen

Behandlungsstrategien der DBT

Bewußter Umgang mit Gefühlen

Körpersprache und Emotionsausdruck

Unterscheidung zwischen aggressiver und selbstsicherer Ich-Durchsetzung

Zwischenmenschliche Fertigkeiten

Strategien im Umgang mit Krisen

Strategien zur Erhöhung der Streßtoleranz

Bedeutung von Selbstverbalisation

Imaginative Verfahren, Körperübungen und Entspannungsverfahren

Problemlösetraining 

Gruppenregeln und therapiegefährdendes Verhalten


Die DBT-Gruppe ist auf die Vermittlung von Informationen und eine gemeinsame Arbeit an den Therapiezielen ausgerichtet. Die TeilnehmerInnen müssen dazu bereit sein, sich in der Gruppe aktiv zu beteiligen und zwischen den Sitzungen Hausaufgaben zu erledigen.


Zu den therapiegefährdenden Verhaltensweisen innerhalb der Gruppe zählen die Unfähigkeit oder Weigerung in der Therapie mitzuarbeiten, Lügen, während der Sitzung nicht sprechen, sich während der Sitzung emotional zurückziehen, alles in Frage stellen, was die Therapeutin sagt, in der Sitzung vom Thema ablenken, auf die meisten Fragen mit ”ich weiß nicht” oder ”ich kann mich nicht erinnern” antworten, bestimmte Themen oder Übungen zu vermeiden, Hausaufgaben nicht oder nur unvollständig zu machen oder entsprechende Unterlagen zu Hause zu vergessen.


Therapiegefährdend sind auch Verhaltensweisen, die mit anderen PatientInnen kollidieren. Insbesondere offen feindselige und kritische Bemerkungen können andere Teilnehmer daran hindern, von der Therapie zu profitieren. In der Gruppe sind gegensätzliche Meinungen willkommen und sollen herausgearbeitet werden. Es gibt kein richtig oder falsch; deswegen sollen PatientInnen darauf achten, sich und andere nicht zu bewerten. Auch wenn es nicht das Ziel der Gruppe ist, Konflikten aus dem Weg zu gehen, ist es für alle wichtig, darauf zu achten, daß die persönlichen Grenzen anderer TeilnehmerInnen und auch der ModeratorInnen respektiert werden. Die Grundhaltung besteht darin, zu akzeptieren, daß alle Fehler machen können, und daß wir alle aus Fehlern lernen. Auch für sich selbst sollten die TeilnehmerInnen Fehler akzeptieren und konstruktive Rückmeldungen annehmen. Wichtig ist noch, daß außerhalb der Gruppe keine suizidale Kommunikation stattfindet. Falls eine Mitpatientin Ihnen mitteilt, daß sie suizidal ist, müssen Sie dies unverzüglich an ein Mitglied des therapeutischen Teams weitergeben. Sie sollten sich außerdem verpflichten, keine intimen Beziehungen zu MitpatientInnen aufzunehmen.


Als Gruppenregeln gelten:

Die Gruppe beginnt pünktlich

Störungen haben Vorrang

Einander ausreden lassen

Jeder spricht für sich selbst

Kritik nicht verletzend und konstruktiv äußern

Schweigepflicht nach außen

keine suizidale Kommunikation und keine intimen Beziehungen


Skript 2: Hauptmerkmale der Borderline-Störungen

Entwicklung des Konzepts


Das Konzept der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist relativ neu. Es erschien im Diagnostischen Manual der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung erst mit der Veröffentlichung des DSM-III im Jahr 1980. Am kontroversesten diskutiert wurde wohl die Verwendung des Begriffes ”Borderline” als offizielle Bezeichnung. Die Bezeichnung war zuvor schon lange in psychoanalytischen Kreisen gebräuchlich, allerdings mit unscharfer und wechselnder Bedeutung. Wörtlich bedeutet Borderline ”Grenzlinie”. Für mehrere Theoretiker standen Borderline-PatientInnen auf der Grenze zwischen Neurose und Psychose (z.B. Angsterkrankung und Schizophrenie). Für andere verlief die Grenze zwischen Normalität und Abnormalität.


Viele Jahre lang wurde der Begriff unter TherapeutInnen umgangssprachlich gebraucht, um PatientInnen zu beschreiben, die zwar schwerwiegende Probleme in ihrer Lebensführung aufwiesen, aber mit den konventionellen psychoanalytischen und auch verhaltenstherapeutischen Methoden nur schwer zu behandeln waren. Im Sinne einer sogenannten “Gegenübertragung” riefen diese PatientInnen oft intensiven Ärger und Hilflosigkeit bei dem behandelnden therapeutischen Personal hervor. Die emotionale Verfassung sowohl der PatientInnen als auch der TherapeutInnen schien sich zu verschlechtern, sobald diese PatientInnen mit der Psychotherapie begannen. Insofern lagen die “Grenzlinie” zunächst auch bei der ungeklärten diagnostischen Zuordnung und der mangelhaften Behandelbarkeit des Störungsbildes.


Die biosoziale Theorie, auf der die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) aufbaut, hat den Begriff ”Borderline” kritisiert und statt dessen den Begriff der ”Emotional instabilen Persönlichkeit” vorgeschlagen. Diese Bezeichnung bezieht sich auf das Hauptmerkmal der Störung, nämlich die ”stabile Instabilität” in den Gefühlen und im Verhalten der Betroffenen. Das Diagnosenbuch der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) hat diesen Begriff aufgenommen und unterscheidet zwei Typen der Emotional instabilen Persönlichkeit:

den impulsiven Typus und den Borderline-Typus.


Hauptmerkmale der Borderline-Persönlichkeit


Im wesentlichen sind von der BPS fünf Bereiche der seelischen Anpassung betroffen: die Impulssteuerung, die Reaktionsbereitschaft der Gefühle, das persönliche Identitätsgefühl, die Einheit des Erlebens und die zwischenmenschlichen Beziehungen.


Als impulsive Handlungsmuster treten häufig selbstschädigende Verhaltensweisen wie Selbstverletzungen, Suizidankündigungen und Suizidversuche, Substanzmißbrauch, Freßanfälle, sexuell abweichendes Verhalten, Ladendiebstähle, Geldverschwendung, übersteigertes Glücksspiel, rücksichtsloses und riskantes Fahren und aggressive Ausbrüche auf. Impulsive Verhaltensweisen haben bei Borderline-PatientInnen oft einen selbstbestrafenden oder selbstzerstörerischen Charakter, dienen aber auch einer kurzfristigen Spannungsreduktion.


Instabilität in den Gefühlen zeigt sich dadurch, daß die Betroffenen gefühlsmäßig sehr heftig reagieren und leicht von negativen Gefühlszuständen überflutet werden können. Die Affekte haben oft eine diffuse Qualität mit einer Vermischung aus Angst, Wut und Verzweiflung. Sie werden häufig als quälende Spannung erlebt. Typisch ist dabei ein rastloses Getriebensein, Langeweile, ein Gefühl der inneren Leere, ein Gefühl völligen Verlassenseins und das Gefühl böse und inakzeptabel zu sein. Zu einer Situation passende Gefühle wie Angst, Wut, Trauer oder Scham werden oft nicht erkannt oder nicht passend ausgedrückt, was vor allem für den Ausdruck von Wut zutrifft. Die Betroffenen leiden häufig unter episodisch auftretenden Depressionen.


In Belastungssituationen können vorübergehende dissoziative oder (pseudo-) psychotische Störungen im Sinne von kognitiven Fehlregulationen auftreten. Als Dissoziationen werden Zustände beschrieben, in denen die Betroffenen in gewissem Maße die Fähigkeit zur bewußten Kontrolle der Aufmerksamkeit verlieren oder keinen Zugang zu bestimmten Erinnerungen, Empfindungen oder Körperbewegungen haben. Depersonalisationserlebnisse im Sinne eines Gefühls sich selbst fremd zu sein oder neben sich zu stehen, können ebenso auftreten wie Derealisationserlebnisse, z.B. das Gefühl, daß Dinge unwirklich erscheinen. Kurze psychotische Erlebnisse können sich als Halluzinationen oder Wahnvorstellungen zeigen.


Die Identitätsstörung betrifft eine anhaltende Unsicherheit oder Unklarheit des eigenen Selbstbildes, der persönlichen Ziele und der inneren Vorlieben (einschließlich der sexuellen). Das Gefühl der eigenen Person gegenüber kann derart verzerrt sein, daß ein Empfinden besteht, gar nicht zu existieren oder das Böse zu verkörpern. Borderline PatientInnen berichten nicht selten, daß sie überhaupt kein Identitätsgefühl haben, sich chronisch leer fühlen und nicht wissen, wer sie sind.


Ihre partnerschaftlichen Beziehungen können chaotisch, intensiv und geprägt von Schwierigkeiten sein. Oft besteht eine Neigung, andere entweder zu idealisieren oder zu entwerten, eventuell abrupt von der Idealisierung zur Entwertung umzuschwenken. Trotz dieser Probleme finden es Borderline-Personen häufig extrem schwer, Beziehungen zu beenden. Stattdessen bemühen sie sich verzweifelt, wichtige Bezugspersonen davon abzuhalten, sie zu verlassen. Oft dient die Aufrechterhaltung von als unerträglich empfundenen Beziehungen dazu, das Alleinsein zu vermeiden. Der Mangel an stabilen intimen Beziehungen wird möglicherweise verdeckt durch stabile nicht intime Beziehungen oder Beziehungen, die gerade so lange stabil sind, wie keine vollkommene Intimität möglich ist. Tendenziell wird von den Betroffenen Intimität mit Sexualität verwechselt. Charakteristisch scheint im zwischenmenschlichen Bereich eine Ambivalenz zwischen dem Wunsch nach Nähe und der Angst vor Bindung zu sein.






Skript 3: Typische Verhaltensweisen bei BPS

Die drei dialektischen Dimensionen



Emotionale

Verletzbarkeit


Andauernder      Aktive

Krisenzustand     Passivität




Scheinbare      Unterdrücktes

Kompetenz      Trauern


Selbstentwertung




A. Emotionale Verletzbarkeit und Selbst-Entwertung


Emotionale Verletzbarkeit bezeichnet die umfassende Schwierigkeit, negative Gefühle zu verarbeiten. Dazu gehört eine ausgeprägte emotionale Empfindlichkeit, hohe Gefühlsintensität und ein nur langsamer Rückgang zur Ausgangsstimmung. Wie später genauer erläutert wird, ist dieses Reaktionsmuster weitgehend biologisch bedingt und stellt in der DBT ein zentrales Kennzeichen der Borderline-Störung dar. Es gibt vier Merkmale einer intensiven emotionalen Erregung, die den Betroffenen das Leben schwer machen: Erstens führen die physiologischen Erregungen zu komplexen Reaktionsmuster, die sich quasi ”automatisch” auf die Wahrnehmung, die Gedanken und das Ausdrucksverhalten auswirken. Zweitens wird der Ablauf einer bewußten Handlung durch intensive Emotionen üblicherweise gestört. Drittens kann ein Gefühl des Kontrollverlustes und eine gewisse Unvorhersagbarkeit bezüglich der eigenen Person entstehen. Und schließlich führt die mangelnde Kontrollfähigkeit zu spezifischen Ängsten und Anspannung, wodurch die Verletzlichkeit noch erhöht wird.


Selbst-Entwertung bezieht sich auf die Tendenz, das eigene Erleben, Fühlen, Denken oder Verhalten zu entwerten oder nicht anzuerkennen. Die Selbstentwertung stellt insofern den gegensätzlichen Pol zur emotionalen Verletzbarkeit dar, daß sie nicht biologisch, sondern psychosozial bedingt ist, was ebenfalls später noch genauer erläutert wird. Oft bestehen aufgrund bestimmter Entwicklungsbedingungen unrealistisch hohe Standards und Anforderungen an die eigene Person. Da sie keine Vorstellung vom Konzept eines Erfolges in Teilschritten haben, tendieren die Betroffenen dazu, sich für kleine Annäherungen an ihr Ziel eher zu bestrafen als zu belohnen. Diese Strategie der Selbstregulation führt mit Sicherheit zu Versagen und letzendlich zum Aufgeben. Neben anderen negativen Konsequenzen führt die Selbstbestrafung in Form von Selbstkritik oft zu Schuldgefühlen. Um die Schuldgefühle zu reduzieren, versuchen Borderline-PatientInnen häufig, die auslösenden Situationen zu vermeiden. Damit vermeiden sie aber gleichzeitig die Verhaltensweisen, die notwendig wären, um die problematische Situation zu ändern. Außerdem beginnen sie, die sich die Möglichkeit zur Problemlösung als zu einfach vorzustellen (”Das müßte ich mit links schaffen”). Diese Übersimplifizierung der Schwierigkeiten im Leben führt wiederum zu Selbsthaß, sobald bestimmte Ziele nicht erreicht werden.



B. Aktive Passivität und Scheinbare Kompetenz


Aktive Passivität bezieht sich Tendenz, an Probleme passiv und hilflos heranzugehen, und unter extremem Leidensdruck dann aktiv von der Umwelt (und oft vom Therapeuten) Lösungen für die Lebensprobleme zu fordern. Häufig ist dies der Anfang einer unguten Entwicklung.


Scheinbare Kompetenz bedeutet, daß die Betroffenen leicht einen täuschend kompetenten Eindruck machen. Die Täuschung kommt dadurch zustande, daß vorhandene Kompetenzen nicht zu jeder Zeit verfügbar sind und auf bestimmte Situationen nicht angewendet werden können. So kann eine Person z.B. nur an manchen Tagen in der Lage sein, mit Angst oder Depressionen fertig zu werden, an anderen Tagen nicht. Oder sie mag zwar unter Arbeitsbedingungen angemessen selbstsicher sein, aber in intimen Beziehungen kein selbstsicheres Verhalten zeigen können. Die Täuschung wird noch dadurch verstärkt, daß emotionale Probleme körpersprachlich nur unzureichend ausgedrückt und von daher oft übersehen werden.



C. Permanente Krise und Unterdrücktes Trauern


Permanente Krise bezeichnet die anscheinend niemals endenden persönlichen Krisen der Betroffenen durch extreme Häufungen belastender, negativer äußerer Ereignisse, Störungen oder Hindernisse. Teilweise werden die Krisen durch die selbstgefährdende Lebensführung der Personen verursacht, teilweise durch ein ungünstiges soziales Umfeld und teilweise durch Schicksal oder Zufall. Die permanenten Krisen verhindern, daß zu einem Grundniveau neutralem emotionalem Funktionierens zurückgekehrt wird und behindert extrem das systematische Lösen von Problemen.


Gehemmtes Trauern bezieht sich auf das Muster wiederholter bedeutsamer Traumata und Verluste in Kombination mit der Unfähigkeit, diese Ereignisse zu durchleben und tatsächlich zu verarbeiten. Das Individuum wird sozusagen von ständigen Verlusten überfordert und vermeidet alle negativen Gefühle. Daher die Tendenz, negative Gefühlsreaktionen zu unterdrücken und übermäßig zu kontrollieren. Somit wird die persönliche Trauerarbeit verhindert und die persönlichen Veränderungen blockiert; ein Syndrom für das dissoziative Phänomene charakteristisch sind.




Skript 4: Biosoziale Theorie der Borderline-Störungen


Biologische Grundlagen der emotionalen Verletzlichkeit


Nach der biosozialen Theorie besteht das zentrale Problem der BPS in einer Störung der Gefühlsregulation. Diese Fehlregulation zeigt sich auf der körperlichen Ebene durch eine gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber emotionalen Reizen, eine heftige Reaktion (Herzklopfen, Zittern, Schwitzen etc.) schon auf schwache Reize und eine nur langsame Rückkehr zum Ausgangsniveau.


Neuere neuropsychologische Untersuchungen haben gezeigt, daß bei den Betroffenen in emotional bedeutsamen Situationen ein bestimmtes Hirnareal im limbischen System (Amygdala), das für die Steuerungen der Emotionen zuständig ist, übermäßig aktiv ist. Gleichzeitig besteht eine verminderte Aktivität im vorderen Großhirn, das u.a. für die Kontrolle der eingehenden emotionalen Signale, die Aufmerksamkeitssteuerung während des Erlebens intensiver Emotionen und die Hemmung unangemessener Verhaltensweisen als Reaktion auf starke Gefühlserlebnisse zuständig ist.


Die Verarbeitung von Gefühlen ist bei Menschen mit Borderline-Störungen demnach gekennzeichnet durch eine besondere emotionale Vulnerabilität. Diese gefühlsmäßige Verletzlichkeit entsteht durch das Zusammenwirken von drei Faktoren:

1. Hohe Empfindlichkeit

prompte emotionale Reaktionen und niedrige Reizschwelle

2. Hohe Reaktivität

extreme Reaktionen und Beeinflussung von kognitiven Prozessen (Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken) durch starke emotionale Erregung

Langsame Rückkehr zum Ausgangsnivau

langanhaltende Reaktionen und hohe Empfindlichkeit für nachfolgende emotionale Reize


Als Ganzes gesehen, kann man von einer biologisch bedingten Disposition (Bereitschaft) zu einer gefühlsmäßigen Fehlregulationen sprechen. Die daraus resultierende emotionale Verletzlichkeit (Vulnerabilität) läßt sich mit der Situation von Patienten mit ausgedehnten Verbrennungen vergleichen: sie haben sozusagen eine sehr dünne und empfindliche Haut. Selbst die leichteste Berührung oder Bewegung kann ungeheuer schmerzhaft sein. Nun ist aber im Leben wie in der Therapie Bewegung wie Berührung unvermeidbar!


Wie das beschriebene seelisch-körperliche Defizit der Emotionsregulation entsteht, ist noch nicht eindeutig geklärt. Vermutlich spielen viele verschiedene Faktoren eine Rolle, so daß bei verschiedenen Menschen eine ganz unterschiedliche Ausgangssituation vorliegen kann. Die verschiedenen Faktoren lassen sich grob unterteilen in biologische Bedingungen und psychosoziale Bedingungen. Gerade in der frühen Kindheit, in der die Fehlregulation vermutlich bereits entsteht, spielen darüber hinaus Wechselwirkungen zwischen beiden Bereichen eine große Rolle. So kann z.B. ein biologisch besonders verletzliches Kind in einer schützenden Umwelt aufwachsen, ein biologisch robustes Kind kann in einer verletzenden Umwelt aufwachsen oder im ungünstigsten Fall kann ein biologisch verletzliches Kind in einer verletzenden Umwelt aufwachsen.



Günstige psychosoziale Bedingungen


Säuglinge und Kleinkinder sind ihrer Natur nach absolute ”Gefühlswesen”, deren Erleben weitgehend durch die Aktivitäten des bereits besprochenen limbischen Systems gesteuert werden. Die Gefühle von kleinen Kindern werden noch nicht durch Denkprozesse kontrolliert und sind damit in hohem Maße ”authentisch”. Das Problem der emotionalen Entwicklung besteht nun darin, daß auch gutmeinende und liebevolle Eltern selbst nicht mehr über diese Authentizität verfügen, d.h. Teile ihrer Gefühlswelt ablehnen oder verleugnen. Für das Kind ist es zutiefst verwirrend und schmerzhaft, wenn ihre Gefühle von den Eltern nicht angenommen (validiert) werden oder es sogar dafür gestraft wird. Dieser Vorgang, der auch als ”Erziehung” bezeichnet wird, geschieht völlig schuldlos und ist kein Vorwurf an die Eltern, die ja ihr Bestes tun und auch selbst vielleicht nichts Besseres kennengelernt haben. Unter bestimmten Umständen kann aber beim Kleinkind die emotionale Schlußfolgerung entstehen, daß mit ihnen grundsätzlich etwas nicht stimmt, da die kritisierend erlebten Eltern in dieser Phase als ”ideal” angesehen werden und automatisch “recht haben”.


In einer ”optimalen” Familie werden persönliche Erfahrungen häufig einfühlsam bewertet (validiert). Wenn zum Beispiel ein Kind sagt, daß es durstig ist, geben die Eltern ihm etwas zu Trinken (statt zu sagen: ”Nein, du bist nicht durstig. Du hast gerade etwas getrunken”). Wenn ein Kind weint, dann beruhigen es die Eltern oder sie versuchen, herauszufinden, was nicht in Ordnung ist (statt zu sagen: ”Hör auf zu weinen”). Wenn ein Kind Ärger oder Enttäuschung zeigt, dann nehmen die Familienmitglieder dieses ernst (statt es als unwichtig abzutun). Wenn ein Kind sagt: ”Ich habe es so gut gemacht, wie ich konnte”, dann stimmen die Eltern zu (statt zu sagen: ”Nein, das hast du nicht”). In der optimalen Familie werden die Vorlieben des Kindes respektiert (z.B. die Farbe des Zimmers, die Aktivitäten oder die Kleidung). Den Einstellungen und Gedanken des Kindes wird Interesse entgegengebracht, und sie werden ernst genommen. Die Gefühle der Kinder werden als wichtige Mitteilungen betrachtet. Elterliches Verhalten, das im Einklang mit den Bedürfnissen des Kindes steht und dabei authentisch ist, führt dazu, daß das Kind lernt, seine eigenen Emotionen von denen anderer Menschen zu unterscheiden.


Charakteristika eines invalidierenden Umfeldes


In einer ”invalidierenden Familie” stehen die Reaktionen der Mitglieder nicht im Einklang mit der Mitteilung von Vorlieben, Gedanken und Gefühlen. Auf gefühlsmäßige Reaktionen und die Mitteilung persönlicher Erfahrungen wird entweder überhaupt nicht oder auf extreme Weise reagiert. Typisches Merkmal eines invalidierenden Umfeldes ist, daß Mitteilungen persönlicher Erfahrungen nicht als stimmige Selbstbeschreibungen akzeptiert werden (z.B. ”Du bist wütend und willst es nur nicht zugeben”). Vom Kind geäußerte Gefühle werden nicht als eine angemessene Reaktion auf Ereignisse registriert. Sowohl gefühlsmäßige Reaktionen als auch Selbstmitteilungen der Kinder werden nicht wahrgenommen, werden entwertet oder zurückgewiesen. Die Betroffenen werden auch häufig direkt kritisiert oder bestraft, als sozial inakzeptabel (z.B. faul, naiv) charakterisiert, für krank erklärt oder aufgrund ihres Geschlechtes oder anderer willkürlich gewählter Eigenschaften herabgesetzt. Eine der schlimmsten invalidierende Erfahrung ist ein sexueller Mißbrauch in der Kindheit.


Die Abwertung von Gefühlen ist als eine Ausdrucksform des ”Individualismus” und des ”Materialismus” auch kulturell bedingt. Die verletzende Umgebung wird häufig von Personen geprägt, die dazu neigen, gefühlsbezogene und hierbei besonders negative Erfahrungen zu mißachten, die Schwierigkeiten bei der Lösung größerer Probleme herunterspielen und viel Wert auf positives Denken legen. Diese Einstellung kann sicherlich für manche nützlich sein und scheint auch den zentralen Wertmaßstäben unserer westlichen Kultur zu entsprechen. Die Botschaft lautet in etwa: ”Alles kein Problem, jeder kann das schaffen, wenn er sich nur anstrengt”. Verletzliche Individuen strengen sich auch oft ungeheuer an, ohne allerdings jemals Anerkennung für ihr Bemühen zu ernten. Schlimmer noch als in den ”typischen Familien” sieht es für verletzliche Menschen in ”chaotischen Familien” und in ”perfekten Familien” aus.


Konsequenzen eines invalidierenden Umfeldes


Eine solche Umgebung bewirkt das Unterdrücken von Gefühlen, insbesondere der negativen Gefühle. Die Fehlregulation der Gefühle wird dadurch verstärkt, daß die Bezugspersonen versäumen, dem Kind beizubringen, wie es Erregung benennen und mitteilen kann. Dem Kind wird nicht gezeigt, wie es seine Gefühle regulieren soll und wie es emotionale Spannungen aushalten kann. Weiterhin lernt das Kind nicht, sich auf die eigene ”innere Stimme” zu verlassen. Somit kann es kein Vertrauen in die eigenen Erfahrungen als angemessene Anwort auf Ereignisse entwickeln. Das Kind wird richtiggehend daran gehindert, Probleme, die zu schmerzliche Gefühlen führen, selbst zu lösen.


Statt dessen wird dem Kind beigebracht, seine eigenen Erfahrungen permanent in Frage zu stellen. Es lernt, die soziale Umwelt ständig nach Hinweisen abzusuchen um zu erfahren, wie es denken, fühlen und handeln soll. Im Erwachsenenalter übernehmen Borderline-Personen die Merkmale ihrer krankmachenden Umgebung. So neigen sie dazu, ihre eigenen Gefühle in Frage zu stellen und sich selbst zu entwerten, wenn sie etwas ”Unangebrachtes” fühlen. Sehr oft versuchen sie, sich auf der Suche nach einer ”korrekten” Betrachtung der inneren und äußeren Realität nach Anderen zu richten. Da eine invalidierende Umwelt diejenigen Mitglieder beschämt, die sich als emotional verletzlich erweisen, ist die Schamreaktion ist eine typische Antwort auf unkontrollierbare negative Gefühle bei Borderline-PatientInnen.


Schließlich beginnen die Betroffenen auch zu glauben, daß die Lösung von Problemen eigentlich ganz einfach ist. Sie versäumen deshalb, Belohnung statt Strafe für kleine Schritte in Richtung auf übergeordnete Ziele einzusetzen. Die Vereinfachung von Lebensproblemen führt unausweichlich zu unrealistischen Zielsetzungen und damit letztlich zu Mißerfolgen. Auf Mißerfolge reagieren die Betroffenen mit Selbsthaß, zunehmender innerer Spannung und schließlich mit impulsivem Verhalten.



Skript 5: Kognitive Theorie der Borderline-Störungen


Persönliche Grundannahmen über sich selbst und die Umwelt spielen in der Kognitiven Therapie eine zentrale Rolle. Die Kognitive Theorie von Persönlichkeitsstörungen geht davon aus, daß extrem stabile und dauerhafte Denkmuster (Schemata) während der Kindheit entstehen und zu unangepaßten Verhaltensmustern führen können. Dabei wird angenommen, daß Schemata einerseits die Wahrnehmung und Interpretation von Ereignissen beeinflussen, andererseits das Verhalten und die emotionalen Reaktionen prägen. Diese Denkmuster werden durch die Wiederholung immer derselben Erfahrungen als Gewohnheiten angenommen und im Laufe der Entwicklung bis ins Erwachsenenalter vervollständigt.


Drei wesentliche Grundannahmen werden bei der Therapie mit Borderline-PatientInnen des öfteren aufgedeckt und scheinen eine zentrale Rolle zu spielen. Sie lauten:

”Die Welt ist gefährlich und feindselig”

”Ich bin machtlos und verletzlich”

”Ich bin von Natur aus inakzeptabel”

Die Annahme einer Person, daß die Welt im allgemeinen gefährlich und sie selbst relativ machtlos ist, führt direkt zu der Schlußfolgerung, daß es immer gefährlich ist, weniger wachsam zu sein, Risiken einzugehen oder die eigenen Schwächen zu zeigen. Folglich kommt es unter anderem zu chronischer Anspannung und Angst, zu einer ständigen Suche nach Gefahrensignalen und zu einem grundsätzlichen Unbehagen beim Auftreten von Gefühlen, weil diese schwer zu kontrollieren sind. Die übermäßige Wachsamkeit und die Tendenz, Risiken aus dem Weg zu gehen, statt auftretende Probleme einfach anzugehen, stützt wiederum die Annahme der Betroffenen, relativ machtlos und verletzlich zu sein und weitere Vorsichtsmaßnahmen nötig zu haben. So ergibt sich schnell ein Teufelskreis der ”Erlernten Hilflosigkeit”.


Borderline-Personen stecken noch in einem anderen Dilemma: Die Annahme, ziemlich unakzeptabel zu sein, hindert sie paradoxerweise daran, sich eine feste Bezugsperson zu suchen, die sich um sie kümmern kann. Sie folgern nämlich, daß aufgrund einer daraus entstehenden Abhängigkeit die Gefahr bestünde, angegriffen, verletzt oder verlassen zu werden. Das würde ihrer Meinung nach dann der Fall sein, wenn ihre von Natur aus bestehende Unzulänglichkeit entdeckt würde. Von daher schwanken die Betroffenen gezwungenermaßen zwischen Autonomie und Abhängigkeit hin und her, ohne sich auf eine der beiden verlassen zu können.


In Beziehungen und anderen emotional bedeutsamen Situationen können dann eine Reihe von früh gelernten, wenig hilfreichen Gedankenmustern bzw. ”persönlicher Mythen” aktiviert werden und zu kognitiven Verzerrungen, heftigen emotionalen Reaktionen und problematischen Verhaltensweisen führen. Beispiele dafür sind:

”Keiner würde mich lieben oder in meiner Nähe sein wollen, wenn er mich richtig kennenlernen würde.” (Mangelnde Liebenswürdigkeit).

”Ich werde immer alleine sein, niemand wird für mich da sein”. (Verlassenheit)

”Alleine komme ich nicht zurecht. Ich brauche jemanden, auf den ich mich verlassen kann.” (Abhängigkeit).

”Ich muß meine Wünsche den Wünschen anderer unterordnen, sonst verlassen sie mich oder greifen mich an.” (Unterordnung).

”Ich muß mich selbst schützen. Die Leute werden mich sonst verletzen oder ausnutzen.” (Mißtrauen).

”Es ist mir nicht möglich, mich zu kontrollieren oder zu disziplinieren.” (Mangelnde Selbstdisziplin).

”Ich muß meine Emotionen kontrollieren, sonst passiert etwas Fürchterliches.” (Angst vor Kontrollverlust).

”Ich bin ein schlechter Mensch. Ich verdiene es, bestraft zu werden.” (Schuld/ Bestrafung).


Die mißliche Lage der Borderline-PatientInnen wird durch eine häufig auftretende gedankliche Verzerrung bei der Bewertung von Situationen verschlimmert: das ”Schwarz-Weiß-Denken”. Dieses entspricht der Tendenz, Erlebnisse in extremer Weise im Sinne sich gegenseitig ausschließender Kategorien (z.B. gut oder schlecht, Erfolg oder Mißerfolg, vertrauenswürdig oder hinterlistig) zu bewerten, anstatt sie auf einem Kontinuum mit dazwischen liegenden „Grautönen“ einzuordnen. Extreme Situationsbewertungen bewirken oder begleiten dann auch extreme emotionale Reaktionen und extremes Handeln.


Darüber hinaus kann das Schwarz-Weiß-Denken leicht zu einem abrupten Wechsel von einer extremen Ansicht zu ihrem Gegenteil führen. Wahrscheinlich würde zum Beispiel jemand, der sich bislang als verläßlich erwiesen hat, als absolut vertrauenswürdig angesehen, bis er erstmals den Erwartungen nicht gerecht wird. Dann würde die Person plötzlich als vollkommen unzuverlässig erscheinen, da keine Kategorie für die mittleren Bereiche der Zuverlässigkeit gegeben sind. Der Gedanke, daß jemand meistens oder überwiegend vertrauenswürdig sein könnte, widerspräche dem Schwarz-Weiß-Denken.


Die Kombination aus Schwarz-Weiß-Denken und den Grundannahmen der Borderline-PatientInnen hat eine besonders starke Wirkung. Die meisten Menschen sind sich bewußt, daß das tägliche Leben eine Vielzahl von Risiken und Bedrohungen birgt, werden aber mit dieser Gewißheit fertig. Aufgrund des Schwarz-Weiß-Denkens wird die Welt jedoch entweder als absolut gut oder absolut grausam betrachtet. Darüber hinaus haben alle Menschen ihre Fehler und Unzulänglichkeiten, und die meisten können diese Tatsache bis zu einem gewissen Grad akzeptieren. Bei Borderline-Personen führt das Schwarz-Weiß-Denken dazu, sich selbst oder andere entweder als absolut fehlerlos oder als absolut unannehmbar zu bewerten. Daraus ergibt sich die Schlußfolgerung, ein für alle mal ”nicht in Ordnung” zu sein, falls irgendwelche Unzulänglichkeiten sichtbar werden.


Die Überzeugung, von Natur aus inakzeptabel zu sein, führt schnell zu dem Schluß, daß diese Tatsache vor anderen versteckt werden muß. Leider bedeutet dies, daß die Betroffenen aus Angst, ihr ”Geheimnis” würde entdeckt, Intimität und Offenheit vermeiden müssen. Wenn sie das dann daran hindert, ihren Wunsch nach Nähe und Sicherheit zu erfüllen, führt das Schwarz-Weiß-Denken zu der Schlußfolgerung: ”Ich werde nie das bekommen, was ich mir wünsche - alles ist sinnlos”. Die Frustration des Wunsches nach Nähe führt häufig zu starker Wut, die aus Sicht der Betroffenen wiederum so inakzeptabel und zerstörerisch ist, daß sie jegliche Aussicht auf eine enge Beziehung zunichte machen würde, falls sie zum Ausdruck käme. Da ihre Überzeugung, Wut ebenso wie andere bedeutende Unzulänglichkeiten verstecken zu müssen, sie darüber hinaus hindert, sich anderen so zu zeigen, wie sie sind, erfahren sie niemals, daß sie von Natur aus nicht inakzeptabel sind.


Skript 6: Behandlungskonzept der DBT


Marsha Linehan beschrieb ihre Erfahrungen in der Arbeit mit schwer gestörten, chronisch suizidalen Borderline-PatientInnen als einen dialektischen Prozeß. Der Begriff ”Dialektik” wurde von Hegel vor etwa 150 Jahren (wieder) in die Philosophie eingeführt und bedeutet vereinfacht ausgedrückt, daß jede Entwicklung durch die Stadien einer Bejahung, einer Verneinung und einer Versöhnung der Gegensätze geht.


Charakteristisch für eine dialektische Spannung beim Fehlen eines versöhnenden Moments ist, daß jede positive Kraft gleichzeitig eine negative Gegenkraft erzeugt und umgekehrt. So kommt es, daß viele Konzepte in ihr Gegenteil verkehrt und durch dieses wiederum erhalten und erfüllt werden. Nur durch die Versöhnung der Gegensätze gelangt man zur Mitte und hinauf zur nächsten Stufe, auf der sich diese Synthese sofort wieder in ein Gegensatzpaar aufspaltet.


Die Wippe als Bild für die therapeutische Beziehung


Linehan beschrieb ihre therapeutischen Erfahrungen in Form des Bildes einer Wippe:

”Es ist, als würde sich meine Patientin und ich auf den entgegengesetzten Enden einer Wippe befinden, durch ein wippendes Brett miteinander verbunden. Die Therapie besteht in dem Prozeß des Vor- und Zurückgleitens sowie Auf- und Abschaukelns auf dieser Wippe in dem Bestreben, die Wippe so ins Gleichgewicht zu bringen, daß wir in der Mitte zusammentreffen und zu einer weiteren, sozusagen auf einer höheren Stufe liegenden Wippe hinaufklettern können. Diese höhere Stufe, die Wachstum und Entwicklung bedeutet, kann als eine Synthese der vorherigen Ebenen verstanden werden. Dann beginnt derselbe Prozeß erneut im Bestreben, zu der nächsthöheren Stufe zu gelangen usw.


Bei diesem Prozeß, währenddessen sich die Patientin ständig zwischen ihrem Ende und der Mitte hin- und herbewegt, bewege ich mich auch, um das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Die Schwierigkeit besteht darin, daß wir uns anstatt auf einer Wippe in Wirklichkeit auf einer Bambusstange bewegen, die in schwindelnder Höhe gefährlich auf einem über dem Grand Canyon gespannten Drahtseil balanciert. Wenn die Patientin sich also zu ihrem Ende hinbewegt und ich dies ausgleiche, indem ich ebenfalls zurückweiche, und die Patientin sich erneut zurückbewegt, um das Gleichgewicht zu halten, und dann ich usw., laufen wir Gefahr, in den Canyon abzustürzen. Daher besteht die Aufgabe des Therapeuten nicht nur in der Erhaltung des Gleichgewichts, sondern darin, es derart zu erhalten, daß sich beide eher zur Mitte hinbewegen als zu den Enden der Stange zurückzuweichen.”


Das dialektische Behandlungskonzept


Die dialektische Verhaltenstherapie zielt darauf ab, den Therapeuten ”in die Mitte zu schubsen”, selbst wenn die Patientin zurückweicht. Sie soll Therapeuten helfen, sich entgegen ihren natürlichen Neigungen zu verhalten, nämlich beim Rückzug der Patientin ebenfalls zurückzuweichen. Manchmal muß der Therapeut sogar über die Mitte hinweg und noch hinter die Patientin springen (paradoxe Techniken). Sofern dieses Manöver geschickt gemacht wird, zwingt es die Patientin zur Mitte. Natürlich bedeuten dialektische Techniken auch Risiken. Wenn sie nicht mit Vorsicht und mit Einfühlungsvermögen eingesetzt werden, läuft der Therapeut Gefahr, die Beziehung unwiderruflich aus dem Gleichgewicht zu bringen, und beide werden abstürzen.


Das versöhnende Element der dialektischen Therapie ist der überzeugende Dialog und die überzeugende Beziehung. Die Dialektik macht die in jeder therapeutischen Beziehung bestehenden Gegensätze nutzbar und berücksichtigt und beeinflußt dabei die gesamte Person. Die dialektische Sichtweise betont die Ganzheitlichkeit der Realität, in der jede Erkenntnis ihre eigenen Widersprüche in sich trägt. Identität wird hier als Bezogenheit auf Widersprüche verstanden, wobei immer verschiedene Wahrheiten nebeneinander bestehen. Einander widersprechende Wahrheiten heben sich nicht notwendigerweise gegenseitig auf oder unterdrücken einander, sondern gehören zum Prinzip des Lebendigen. Gegensätze laden dazu ein, sich auf sie einzulassen und mit ihnen (im Sinne des „sowohl als auch“ statt des „entweder - oder“ zu experimentieren.


Die Neigung einer Person mit Borderline-Struktur, die Welt in ”schwarz” und ”weiß” zu spalten, kann verstanden werden als Versuch, entweder an einer Bejahung oder an einer Verneinung festzuhalten, und als Unfähigkeit sich auf eine Synthese hinzubewegen. Grautöne, die in der Mitte zwischen schwarz und weiß liegen, werden nicht wahrgenommen, und so wird ein wichtiger Aspekt der Realität verkannt. Es wird auch verkannt daß sich in Wirklichkeit aus Gegensätzen immer neue Grautöne mischen, daß alles Lebendige ständigen Veränderungen unterworfen ist, daß ”alles im Fluß ist”.


Die Identitätskonfusion der Borderline-PatientInnen entsteht aus ihrer Unfähigkeit, Beziehungen und Ereignisse im ”Hier und Jetzt” anzunehmen und sich mit ihnen einzurichten. Beziehungen befinden sich für die Betroffenen nicht im Fluß, sondern ständig am Rande des Abgrundes. Da Beziehungen nicht als Prozeß verstanden werden, erscheinen sie, ebenso wie die eigene Identität, als instabil und unvorhersagbar. Dies erklärt, warum die Betroffenen sich so sehr bedroht fühlen, wenn Veränderungen anstehen.


Erwünschte Therapeuteneigenschaften


Für den Therapeuten liegt die Dialektik vorrangig in der Notwendigkeit, die Patientin so anzunehmen, wie sie ist, aber gleichzeitig zu versuchen, ihr bei der Entwicklung einer flexibleren Denkweise zu helfen und damit Veränderungen zu ermöglichen. Das Geheimnis liegt dabei, wie der Therapeut es schafft, die scheinbaren Widersprüche zwischen Akzeptanz und Veränderung jederzeit miteinander zu versöhnen. Das erfordert, daß der Therapeut sich vollkommen auf die Erfahrung der Patientin und der Therapie einläßt und sie ohne Wertung, Vorwurf und Manipulation so akzeptiert, wie sie ist.


Wie bereits bemerkt, besteht die Realität jedoch aus Veränderungen, und das Wesen jeder Beziehung liegt in gegenseitiger Beeinflussung. Änderungsorientiertheit erfordert vom Therapeuten die Übernahme von Verantwortung dafür, daß die Veränderung für die Patientin von Vorteil ist. Eine derartige Haltung ist aktiv und bewußt, und soll ein Vorbild darstellen.


Ein Unteraspekt der zentralen Behandlungsdialektik stellt die Dimension ”Standfestigkeit” versus ”mitfühlender Flexibilität” dar. Dies erfordert vom Therapeuten die Fähigkeit, auf einer Position zu beharren und auch gegen massive und häufig sehr verzweifelte Beeinflussungsversuche der Patientin auf Grenzen und Bedingungen zu achten, gleichzeitig aber auch flexibel zu bleiben und Bedingungen den Erfordernissen der jeweiligen Situation anzupassen. Der einzige Punkt, in dem strikt auf eine Grenze zu achten ist, liegt im affektiven und sexuellen Bereich.


Ein zweiter Unteraspekt betrifft die Dimension ”wohlwollendes Fordern” und ”Versorgen”. Der Therapeut muß der Patientin die reale Hilfe und Versorgung geben, die sie braucht, ohne ihr jedoch unnötige Hilfe zu geben. Er darf dabei weder übersehen, daß es Bereiche gibt, in denen die Patientin nicht so kompetent ist, wie es scheint, noch darf er die vorhandenen Kapazitäten ungenutzt lassen. Der Therapeut muß den Fehler vermeiden, die Schwierigkeiten von Veränderungsprozessen zu unterschätzen und zu früh anzunehmen, daß die Patientin Probleme alleine bewältigen kann. Ein solcher Fehler verstärkt die Passivität der Betroffenen, die sonst das Risiko einginge, auf einen Ast zu klettern und dann dort oben alleine gelassen zu werden. Gleichzeitig muß er die Patientin zu eigenen Aktivitäten bringen, z.B. indem er weitere Hilfestellungen von bereits erfolgten Veränderungen abhängig macht. Nur mit unendlicher Geduld und Führung darf auf Veränderungen gedrängt werden.


DBT-Gruppe in der Tagesklinik Riesestraße 2002