Klaus M. Beier

Geb. 1961, Dr. med. und Dr. phil., Studium der Medizin und der Philosophie an der FU Berlin, Professor für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin am Universitätsklinikum Charité der Humboldt-Universität zu Berlin, Arbeitsschwerpunkt u.a.: Geschlechtsidentitätsstörungen und Störungen des soziosexuellen Verhaltens; Veröffentlichungen u.a. »Sexualmedizin zwischen Medizin und Recht«, München 1991, »Sexualmedizin. Grundlagen und Praxis«.

Aufsatz aus Ausstellungskatalog »Sex, vom Wissen und Wünschen«, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Hatje Cantz Verlag. Ausstellung Nov. 2001 bis August 2002 in Dresden

SEXUELLE ÜBERGRIFFE

Opfer und Täter in unserer Mitte: Sexualität als biopsychosoziales Phänomen hyperlink

Sexualität entzieht sich beharrlich einem einseitigen definitorischen Zugriff. Sie ist eine zunächst im Biologischen verankerte Dimension des Erlebens und Verhaltens, die über die reproduktive Funktion hinaus im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung eine Vielzahl höchst unterschiedlicher psychischer Qualitäten (Ängste und Wünsche, Sehnsüchte und Enttäuschungen sowie intensive Beglückung und korrespondierend auch heftigste Konflikte) umfasst, die sich in der jeweiligen Biografie des Einzelnen mani-festieren. Sexualität ist darüber hinaus ein Erlebnisbereich, in dem der Mensch am intensivsten mit anderen Menschen in Beziehungen tritt: Sie ist durch ihre - wie auch immer gerichtete - grundsätzliche Partnerbezogenheit gekennzeichnet und auf »Wir-Bildung« angelegt, bringt also stets etwas Soziales zum Ausdruck. Die Sexualität des Menschen ist darum nur als biopsychosoziales Phänomen verstehbar.

Dass eine solche biopsychosoziale Sichtweise menschlicher Geschlechtlichkeit keine Floskel und keine modische Attitüde ist, wird zunehmend von der Psychoneuroendokrinologie und Psychoneuroimmunologie aufgezeigt, deren Forschungsergebnisse darüber hinaus die Bedeutung von Bindung und Beziehung für die menschliche Entwicklung sowie für die körperliche und seelische Gesundheit unterstreichen.
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Diese noch relativ jungen Forschungsrichtungen demonstrieren, dass Emotionen und Affektzustände in vielfältiger Weise und auf verschiedenen Ebenen die physiologischen Abläufe, das Immunsystem und das Endokrinium beeinflussen. Soziale Unterstützung stärkt das Immunsystem, und beim Vorhandensein liebevoller, tragfähiger Intimbeziehungen schaltet der menschliche Organismus gleichsam auf eine »physiologische Dauerstimmung, die wir als "Glück" oder Zufriedenheit erfahren«.
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Auch für die Auseinandersetzung mit sexuellen Übergriffen ist es daher sinnvoll, davon auszugehen, dass die menschliche Sexualität unterschiedliche Dimensionen aufweist. Zu unterscheiden sind insbesondere die beziehungsorientierte, die reproduktive und die Lustdimension, welche zwar verschiedene Funktionen erfüllen, aber grundsätzlich in einer engen Wechselbeziehung stehen.
Von diesen Dimensionen ist die reproduktive die phylogenetisch älteste. Sie ist beim Menschen auf die Zeit der Fortpflanzungsfähigkeit (von der Pubertät bis zur Menopause) beschränkt und zudem von biografischen Entscheidungen abhängig, also fakultativ.
Die beziehungsorientierte Dimension tritt in der stammesgeschichtlichen Entwicklung später auf, ist aber für den heutigen Menschen ohne Zweifel ein integraler und wesentlicher Bestandteil der Sexualität. Ihre große Bedeutung resultiert aus der Tatsache, dass der Mensch ein Beziehungswesen ist und seine von Beginn des Lebens an bestehenden Grundbedürfnisse nach Annahme, Geborgenheit usw. nur in Beziehungen erfüllt werden können. Dies geschieht im Kindesalter durch konkrete körperliche Erfahrungen des Angenommen werdens, zum Beispiel das schützende Halten des Säuglings beim Stillen. Von Geburt an bestimmt die interaktionelle und körpersprachliche Vermittlung von Gefühlen grundlegend die menschliche Entwicklung und bleibt lebenslang ein Kernmerkmal der Beziehungsgestaltung: Sie ist zunächst nicht auf die Genitalien angewiesen, ermöglicht aber trotzdem eine tiefe Zufriedenheit, die sich durch Haut- und Blickkontakt, überhaupt durch Sinneseindrücke, ergibt. Darum ist sie - unter Berücksichtigung der nicht-genitalen Anteile der Sexualität - die erste sexuelle Erlebnisdimension, die später durch die Möglichkeiten der genital-sexuellen Kommunikation erweitert wird.

Die sexuelle Lustdimension gibt der Sexualität durch das einzigartige sinnliche Erleben von sexueller Erregung und Orgasmus eine besondere Qualität, die sie von anderen menschlichen Erfahrungsmöglichkeiten abhebt. Die sexuelle Lust begründet die motivationale Eigenschaft der Sexualität und stellt gleichsam den Antrieb und die Belohnung sexuellen Verhaltens dar.

Konzepte sexuell abweichenden Verhaltens

Sexuelles Erleben und Verhalten sind in hohem Maße zeit- und kulturbedingt gut daran erkennbar, dass jede menschliche Kultur Normen für die »richtige« Lebensführung vorhält, welche immer auch die Regulierung sexueller sowie reproduktiver Wünsche und Bedürfnisse einschließt. Und es gibt in jeder Kultur auch immer (Herrschafts-) Instrumente, um die Einhaltung dieser Vorgaben zu überwachen.

So hat Michel Foucault
hyperlink sehr überzeugend herausgearbeitet, dass im christlichen Kulturkreis die »Beichte« ein solches Instrument gewesen ist. Dem Geständnis von sexuellen Wünschen und Vorstellungen kam (durch die damit mögliche Erlösung von dem Übel) eine funktionale Bedeutung für das individuelle Seelenheil zu. Dazu musste man jedoch immer wissen, was »richtig« und was »falsch« ist - eine Aufgabe, welche die Theologen übernahmen, Foucault hat aber darüber hinaus aufgezeigt, wie - mit dem Aufkommen des naturwissenschaftlichen Denkens - vor allem die Medizin begann, scheinbar wissenschaftliche »Wahrheiten« über das sexuelle Erleben und Verhalten zu produzieren. Ein Beispiel dafür ist Samuel Tissot (1728-1797), der eigentlich internistisch tätig war und sich mit Infektionskrankheiten beschäftigte, aber mit seinem Werk über »Die Onanie und ihre hintergründigen Gefahren« (1760) weltberühmt wurde. Angeboten wurde dort ebenfalls eine Aufteilung in »richtiges« und »falsches« Verhalten (mit der Aufzählung für die Folgen von »Fehlverhalten«) - scheinbar wissenschaftlich abgesichert.

Gleichermaßen berühmt geworden ist auch das Hauptwerk »Psychopathia sexualis« des österreichischen Psychiaters Richard von Krafft-Ebing (1840-1902) aus dem Jahr 1886: eine umfangreiche Fallsammlung von forensischen Fällen, die sexuelle Verhaltensabweichungen aufweisen. Eine detailreiche Phänomenologie (einschließlich der Vergabe neuer Bezeichnungen wie Sadismus und Masochismus) verbindet sich darin mit einer pathologisierenden Degenerationslehre.

Foucault hat zutreffend eine Entwicklung beschrieben, in der sich die Medizin daran beteiligte, Wahrheitstechniken bereitzustellen, welche die Wahrheit über den Sex hervorbringen sollten. Damit hat er aber nicht die Entwicklung der Sexualwissenschaft beschrieben, die sich gerade in kritischer Auseinandersetzung mit dieser klinischpathologischen Auffassung sexueller »Abweichungen« herausbildete. Die Sexualwissenschaft betrachtet die menschliche Geschlechtlichkeit nicht mehr (wie die Psychiatrie) unter moralischen Aspekten, sondern will sie als biologisches und soziokulturelles Phänomen erforschen. Dafür steht vor allem der englische Sexualwissenschaftler Havellock Ellis (1859-1939). Er habe zeigen wollen, schreibt er mit Blick auf die »sexuellen Perversionen«, »wie diese Verirrungen« zu erklären sind; wie sie mit gewissen Erscheinungen fundamentaler Art im Geschlechtsleben zusammenhängen, ja wie sie in ihrer elementaren Form als normal betrachtet werden können. In einem gewissen Grade finden sie sich in jedem Fall zu irgendeiner Zeit der sexuellen Entwicklung; ihre Fäden verschlingen sich mit dem gesamten psychisch-sexuellen Leben auf das Innigste.«
hyperlink Das sonst als »pathologisch« klassifizierte sexuelle Erleben wird hier also zum Teil des »normalen« Spektrums menschlicher Geschlechtlichkeit.

Die Entstehung der Sexualwissenschaft fällt somit in eine Phase besonders intensiver Auseinandersetzungen der Medizin mit sexuell straffälligem Verhalten. Der Bogen spannte sich von der Inneren Medizin (Tissot) bis zur (forensischen) Psychiatrie (Krafft-Ebing), und es ging um die Präsentation von Material, das ein möglichst komplettes Bild gestörter Sexualität vermitteln sollte. Die Sexualwissenschaft nimmt hier insofern eine ganz eigene Position ein, als sie »sexuelle Abirrungen« oder »Perversionen« bereits vor Freud in den größeren Zusammenhang der psychosexuellen Entwicklung des Menschen stellte, beziehungsweise ihr Augenmerk auf die Normalität der kindlichen Sexualentwicklung richtete; so geht der Begriff »Libido sexualis« auf die gleichnamige Veröffentlichung Albert Molls aus dem Jahre 1896 zurück und wurde später von Freud aufgegriffen.
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Sigmund Freud hat unter Übernahme dieser Konzepte ein psychologisches Erklärungsmodell vorgelegt, mit dem er das Auftreten von Perversionen verstehbarer machen wollte: Für ihn war die Perversion ein seelisches Problem, das er verstand als eine radikale Betonung von sexuellen Wünschen, die prinzipiell in der Entwicklung eines jeden Menschen vorkommen und im Regelfall symptomfrei verarbeitet werden, während sie bei der Perversion als nicht integriertes Sexualverhalten imponieren. Das perverse Symptom ist nach Freud dann nur ein abgewandeltes »Normales«. Es entsteht aus einer - wodurch auch immer - verfehlten Verarbeitung normaler, obligatorisch vorkommender Entwicklungskonflikte.
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Ein modernes und über den Ansatz Freuds hinausreichendes, in der klinischen Arbeit sehr verbreitetes Konzept ist das Konstrukt der »perversen Plombe« von Morgenthaler
hyperlink, der die Perversion vor allem unter funktionalen Aspekten als eine Art Reparaturmechanismus verstand: Wenn in der psychischen Entwicklung das Selbstsystem des Betreffenden strukturelle Mängel aufweist, dann lassen sich die damit verbundenen Ängste der brüchigen Identität über eine forcierte Sexualisierung erfolgreich abwehren. Dieser Abwehrmechanismus der forcierten Genitalbesetzung ist aber lediglich die Übersteigerung einer normalen Funktion und eines normalen Vorgangs. Denn grundsätzlich gilt: genitale Erregung und sexuelle Befriedigung sind Selbst-stabilisierend, stärken die Geschlechtsidentität und fördern die Autonomie. hyperlink Nach psychoanalytischer Lesart sind die ausgeformten perversen Phantasien und Handlungen also ein Erlebensanteil, auf die der Betroffene in Zeiten seelischer Not zurückgreift, um sonst unterdrückte Gefühle im Schutz eines sexualisierten Rituals zum Ausdruck zu bringen.

Etablierte lerntheoretische Ätiologiemodelle zur Erklärung sexuell abweichenden Verhaltens fehlen; insbesondere gibt es kein Konzept, das sowohl die Entstehung »normaler« Heterosexualität als auch ihre Abweichungen erklären würde. Aus der Verhaltensbiologie ist allerdings bekannt, dass neugeborene Tiere durch Prägungsvorgänge in einem bestimmten kritischen Zeitraum anstelle der eigenen Mutter an ein unbelebtes Objekt, ein anderes Tier oder an einen Menschen gebunden werden können. Unter Laborbedingungen lassen sich bei Tieren auch sexuelle Orientierungen und Präferenzen prägen, wobei aber unklar bleibt, inwieweit dies in der natürlichen Umwelt auch ihre Entsprechung haben könnte - von der Übertragbarkeit auf die Ausbildung menschlicher Sexualverhaltensweisen ganz zu schweigen. Näher liegen da schon primatologische Befunde, die darauf hinweisen, dass ein emotionales Mangelmilieu (Affen, die bei unbelebten Attrappen-Müttern aufwuchsen) tiefgreifende Störungen in der Sozialisation und im Sexualverhalten zur Folge haben kann.

Begriffe und Erscheinungen

Es gibt eine Vielzahl von Begriffen, die zur Bezeichnung sexueller Übergriffe, des sexuell Anstößigen, des individuell oder kollektiv Störenden - mehr oder weniger korrekt - Verwendung finden. Grundsätzlich bringt sexuelles Fehlverhalten zunächst eine gestörte soziale Dimension von Sexualität zum Ausdruck. Zur - soweit wie möglich moralisch neutralen - Kennzeichnung dieses zentralen Aspektes bietet sich der Begriff »Dissexualität« an als ein »sich im Sexuellen ausdrückendes Sozialversagen«, welches verstanden wird als Verfehlen der (zeit- und soziokulturell bedingten, damit veränderlichen) durchschnittlich erwartbaren Partnerinteressen.
hyperlink Die sprachliche Analogie zum Begriff »Dissozialität« als einem »fortgesetzten und allgemeinen Sozialversagen« hyperlink ist beabsichtigt: Dissexualität und Dissozialität können sich überlappen (indem dissexuelle Verhaltensweisen, wie zum Beispiel Vergewaltigung, Teil der Dissozialität sind), können aber auch für sich alleine stehen. Während der Begriff Sexualdelinquenz eingeengt ist auf die juristische Perspektive (zum Delinquenten wird man eigentlich erst durch einen juristischen Zuweisungsprozess), gehen die im psychowissenschaftlichen Sprachgebrauch verbreiteten Begriffe Devianz (oder Deviation) und Perversion (nicht alle perversen Symptombildungen sind zugleich auch deviant, zum Beispiel beim Don-Juanismus) über das zu Bezeichnende weit hinaus: Sowohl der auf eine äußere Beschreibung des Verhaltens zielende Devianz- als auch der neurosenpsychologischen Gesichtspunkten verpflichtete Perversionsbegriff umfassen auch sexuelles Verhalten, das kein Sozialversagen ist (zum Beispiel bei Einverständnis des Partners oder bei autoerotischen Praktiken ohne die Beeinträchtigung von Partnererwartungen).

Die justizbekannten sexuellen Übergriffe - das Hellfeld

Seit 1884 führen die Justizbehörden, Jahr für Jahr und zunehmend einheitlicher, Aufzeichnungen über die Abge- und Verurteilten, und zwar unterteilt nach Delikt, Täteralter und Art der Aburtellung (Freiheitsstrafe inklusive Dauer, Maßregel oder Freispruch). Von Interesse sind dabei insbesondere die Strafverfolgungsstatistik (SVS) sowie die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die seit 1955 bis zuletzt 1998 einheitlich alle der Polizei bekannt gewordenen - und zwar nahezu übergangslos auch die in den neuen Bundesländern - Delikte (gemeldete und aufgeklärte Fälle) ohne Rücksicht auf Strafmündigkeit, Schuldfähigkeit oder prozessual nachgewiesene Schuld enthält. Die entsprechend der Aufklärungsquote ermittelten Tatverdächtigen erfahren eine ständige Differenzierung nach kriminologisch bedeutsamen Merkmalen.

Am Beispiel des sexuellen Kindesmissbrauchs wird die erhebliche Reduktion von »gemeldeten Fällen«, über »Tatverdächtige« zu »Verurteilten« (durchschnittlich weniger als 15% der »gemeldeten Fälle«) erkennbar. So wurden etwa im Jahr 1997 bei 16.888 gemeldeten und 11.788 aufgeklärten Fällen 9.166 Tatverdächdige ermittelt, aber nur 2.179 Verurteilungen ausgesprochen.
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Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass weder die Strafverfolgungsstatistik noch die polizeiliche Kriminalstatistik das tatsächliche Ausmaß an strafbarer Sexualität widerspiegeln; sie hängen (zu) stark ab von so unterschiedlichen Parametern wie Anzeigefreudigkeit, öffentliche Sensibilisierung (Zeitgeist), juristischen Verfahrens und statistischen Erfassungsvorschriften. Ohne Frage ergibt sich daraus das Dunkelfeldproblem der nicht angezeigten sexuellen Übergriffe - die gleichwohl in der Realität eine erhebliche Bedeutung haben.

Die »klassischen«, das heißt für Diagnostik und Begutachtung wichtigsten Sexualdelikte des sexuellen Missbrauches (§§ 176, 174 StGB), weiterhin die der sexuellen Aggressionen (§§ 177,178 StGB) und des Exhibitionismus (§§ 183,183a StGB) machen nicht nur den größten Anteil der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung aus, sondern werden heute zu annähernd 19% von Männern an Frauen und Kindern begangen, Lediglich weil Prostitutionsdelikte weniger deutlich bei der polizeilichen Ermittlung als ganz besonders bei den Verurteiltenzahlen - von Täterinnen begangen werden, erreicht der Anteil der nach dem 13. Abschnitt des StGB verurteilten Frauen insgesamt etwa 7%. Auch in der Gruppe der Zuhälter und Bordelliers ist der Frauenanteil nicht unerheblich.

Mädchen und Jungen als Opfer

Nachdem das Thema sexueller Kindesmissbrauch jahrzehntelang öffentlich ausgeblendet und auch von der viktimologischen Forschung vernachlässigt war, ist es nicht zuletzt durch die Aktivitäten der Frauenbewegung - seit Beginn der 1980er Jahre zunehmend ins Licht der Öffentlichkeit und der Wissenschaft gerückt.
Diese gewachsene Aufmerksamkeit für Probleme des sexuellen Missbrauchs erweist sich allerdings als zweischneidig: »Spezifisch sind ( ... ) die Brisanz und der Skandalcharakter des Themas, ein verbreitetes Pseudowissen, die Vereinnahmung durch die Medien, die Politik und die politische Korrektheit und damit die Gefahr der aufgeblähten Prävalenzen und der dramatisierten Folgeschäden. Eine solche Banalisierung des sexuellen Missbrauchs im Kindesalter schadet schließlich niemandem in höherem Maße als seinen wirklichen Opfern.«
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So wurde beispielsweise der (weiterhin sinnvolle) Begriff »sexueller Missbrauch von Kindern« zeitweise stark kritisiert und vorgeschlagen, ihn durch den (nicht sinnvollen) Terminus »sexuelle Misshandlung« zu ersetzen, da er einen »sexuellen Gebrauch von Kindern« insinuiere und überdies das Opfer verdingliche. Diese Sicht erscheint in mehrfacher Weise problematisch: Zum einen können und werden Menschen bedauerlicherweise zu verschiedensten (politischen, religiösen u.a.) Zwecken missbraucht, und zwar um so mehr, je weniger ihnen das Merkmal der selbstbestimmten und informierten Autarkie und Autonomie fehlt (was juristisch den Status des Kindes mit kennzeichnet). Zum zweiten gibt es durchaus einen Gebrauch, den Kinder selbst von der Sexualität (mit sich selbst oder auch mit anderen Kindern) machen; ihnen dies abzusprechen, wäre absurd und könnte die ungestörte sexuelle Entwicklung ebenfalls erheblich gefährden. Und drittens setzt der Begriff Misshandlung gravierende und körperlich verletzende Angriffe auf das Kind mit andauernden körperlichen Folgeschäden voraus, was zwar bei sexuellem Kindesmissbrauch vorkommen kann, jedoch keinesfalls die Regel ist.
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Das Dunkelfeld

Als »Delikt« ohne Zeugen und allzu häufig ohne objektivierbare körperliche Befunde oder andere »stumme Tatzeugen« ereignet sich die Mehrzahl der sexuellen Missbrauchshandlungen im Verborgenen.
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In Deutschland stammt die diesbezüglich umfassendste Studie von Wetzels
hyperlink: Der Autor befragte 1992 mittels (vom Untersucher versiegelt abgeholter) Fragebögen (Rücklaufquote: 98,2%) 3.289 Personen im Alter zwischen 16 und 59 Jahren. Die Stichprobe war für die Bevölkerung der Bundesrepublik repräsentativ und umfasste 1.604 Männer und 1.685 Frauen. 74,8% der Befragten kamen aus den alten und 25,2% aus den neuen Bundesländern. Gefragt wurde nach - genau definierten - sexuellen Missbrauchserfahrungen, weiterhin nach dem Erleben physischer Gewalt durch die Eltern sowie nach der Konfrontation mit elterlicher Partnergewalt in der Kindheit.

Bei Anwendung einer engen Definition sexuellen Missbrauchs (nur Delikte mit Körperkontakt vor dem 16. Lebensjahr durch erwachsene Täter) fand Wetzels eine Prävalenzrate von 8,6% für Frauen und 2,8% für Männer. Bei Verwendung der weitesten Definition (einschließlich der Delikte ohne Körperkontakt) lagen diese Raten bei 7,3% für Männer und 18,1% für Frauen. Diese häufigere Viktimisierung von Mädchen als von Jungen (ca. 4:1) ist im übrigen in allen einschlägigen Untersuchungen beschrieben worden.

Legt man diese Zahlen zugrunde - die im Übrigen den Angaben anderer Untersuchungen mit seriöser Methodik nahekommen
hyperlink - so kann man bei einer jährlichen Geburtenzahl von ca. 800.000 Kindern pro Jahr von ca. 80.000 bis maximal 100.000 neuen Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs ausgehen. Eine erschreckend hohe Zahl, die zwar weit entfernt ist von den immer wieder in den Medien »gehandelten« 300.000 bis 400.000 Fällen (die jeglicher Grundlage entbehren), die aber eine Dunkelzifferschätzung von etwa 1:5 nahelegt, das heißt auf ein gemeldetes Delikt kommen fünf nicht gemeldete. Die Daten von Wetzels enthalten auch einen Hinweis auf die Gründe für diese hohe Dunkelziffer: Etwa ein Drittel der Taten ereignen sich im familiären Nahraum, aus dem heraus bekanntermaßen wesentlich seltener Anzeigen erstattet werden. Dies entspricht auch anderen Untersuchungen und klinischen Erfahrungen, wobei dies insbesondere jene Taten sind, die lang anhielten und durch massive (penetrative) Übergriffe gekennzeichnet waren.
Mindestens ebenso kontrovers wie die Diskussion um die Häufigkeit sexuellen Kindesmissbrauchs ist jene um dessen Früh- und Spätfolgen und - damit zusammenhängend - um seine medizinische und/oder psychologische Nachweisbarkeit.

Hinsichtlich der Frühfolgen sexuellen Missbrauchs im Kindesalter und der bei den Kindern nachweisbaren Symptome in wissenschaftlichen Untersuchungen
hyperlink zu dem Schluss, dass es - außer dem empirisch nur äußerst schwer validierbaren »sexualisierten Verhalten« im Kindesalter - keine spezifischen verhaltensmäßigen Hinweise auf stattgehabten sexuellen Missbrauch gibt. Es kann letztlich nur festgestellt werden, dass Kinder auf sexuellen Mißbrauch mit jenen unspezifischen Verhaltensauffälligkeiten reagieren, die sie auch als Reaktion auf andere psychische Traumen entwickeln.

Eine monokausale und einseitige Attributierung psychischer und Verhaltensprobleme auf einen stattgehabten sexuellen Missbrauch verkennt im übrigen nicht nur die Plastizität menschlicher Entwicklungsressourcen, sondern kann auch diagnostisch und therapeutisch ebenso in die Irre leiten - und damit schaden - wie das Übersehen eines Missbrauchs selbst.
Gleichwohl können auf der Grundlage der vorliegenden Untersuchungen folgende Faktoren, die das Risiko negativer Langzeitfolgen erhöhen, die sich zumeist potenzieren, benannt werden: Je näher der Täter dem Opfer steht, je früher der Missbrauch beginnt und je länger er anhält, je massiver (penetrativer) und gewalttätiger die Übergriffe sind und je weniger Möglichkeiten das Opfer hat, sich dem Einwirken des Täters zu entziehen und/oder sich anderen zu offenbaren, um so gravierender werden die Spät- und Langzeitfolgen sein.
Das bedeutet, dass die Varianz der Tatphänomenologie Auswirkungen hat auf die Varianz der Langzeitfolgen: Das einmalige Sehen eines Exhibitionisten hat nachweislich keinerlei negative Langzeit-Auswirkungen auf das Kind, aber auch die indezente Betastung, ja, selbst der massive einmalige Übergriff durch einen Fremden kann von einem Kind, das in einer behüteten, offenen und vertrauensvollen Familienatmosphäre heranwächst, wo es Beistand und Rat (nicht aber ausschließliche Dramatisierung) erfährt, durchaus ohne längere gravierende Folgen verarbeitet werden.
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Frauen als Opfer

Ebenso wie beim Delikt des sexuellen Kindesmissbrauchs fehlt es auch bei sexuellen Übergriffen im Erwachsenenalter - also Vergewaltigung und sexuelle Nötigung entsprechend dem neugefassten §§ 177/178 StGB - an sicheren Zahlen zur tatsächlichen Häufigkeit. Fest steht allerdings, das Männer diese Taten begehen, aber nur höchst selten Opfer sexueller Übergriffe werden, sieht man einmal von besonderen Bedingungen (zum Beispiel in Haftanstalten) ab.
Der lediglich das Hellfeld ausleuchtenden Kriminalstatistik ist indes zu entnehmen, dass es - im Unterschied zu angezeigten Missbrauchsdelikten im Kindesalter - seit 1971 (8.606 erfasste Fälle) bis 1999 (13.060 erfasste Fälle) zu einer stetigen Zunahme von Anzeigen wegen sexueller Nötigung undloder Vergewaltigung gekommen ist, die heute etwa ein Drittel der Sexualstraftaten ausmachen. Es muss allerdings unklar bleiben, ob diese Entwicklung auf einer tatsächlichen Zunahme beruht oder aber auf die gewachsene Bereitschaft zur Anzeige durch die Frauen zurückzuführen ist.
Die in der Literatur referierten Daten der Frauen, die im Laufe ihres Lebens Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sind, variieren von 10 bis 35%.
hyperlink In Deutschland fehlen bislang repräsentative Dunkelfelduntersuchungen. Bei der Befragung von 194 ost- und westdeutschen Frauen, hyperlink gaben 17% an, in der Vergangenheit Opfer sexueller Nötigung oder Vergewaltigung geworden zu sein - mithin eine Prävalenz, die in das Bild von aus den USA mitgeteilten Daten gut passt.

Differentialtypologie und Prognose am Beispiel pädosexueller Täter

Von zentraler Bedeutung sind die motivischen Bedingungen für die sexuellen Übergriffe, die die sexuell-erotische Konfliktproblematik des Täters zum Ausdruck bringen. Trotz der Vielfalt individueller Einzelphänomene kann man durch tätertypologische Beschreibungen zu verdeutlichenden Gegenüberstellungen gelangen. Bei solchen Typologisierungen wird der Versuch unternommen, das Charakteristische anhand eines Musters von Merkmalen (welches niemals die individuelle Persönlichkeit zur Darstellung bringen kann) hervorzuheben.

So lassen sich die Täter, die Kinder sexuell missbrauchen zunächst in zwei Gruppen einteilen, welche sich durch die Art der Beziehung zum Opfer (die »Partnerbezogenheit«) unterscheiden: Zum einen Täter, bei denen der sexuelle Übergriff auf das Kind eine »Ersatzhandlung« für die eigentlich gewünschte sexuelle Beziehung zu einem altersentsprechenden Partner ist (dies gilt zum Beispiel für Jugendliche oder stark intelligenzgeminderte Männer) und zum anderen Täter, bei denen eben kein »ersatzweises«, sondern ein primäres, genuines Interesse am Kind als einem spezifischen sexuell-erotischen Stimulus besteht. Diese pädophile Neigung kann als ausschließliche Ausrichtung auf Kinder als gewünschte »Sexualpartner« vorkommen (so genannte pädophile Hauptströmung) oder aber neben Wünschen nach sexuellen Kontakten mit altersadäquaten Partnerinnen und Partnern bestehen. Hier handelt es sich um eine so genannte pädophile Nebenströmung - diese Männer sind zum Teil verheiratet und leben von Zeit zu Zeit, etwa in partnerschaftlichen Krisen oder in Versuchungssituationen, ihr sonst latentes, aber biografisch überdauerndes Interesse an Sexualität mit Kindern aus.

Die pädophile Hauptströmung kommt deutlich häufiger bei gleichgeschlechtlicher Ausrichtung vor, das heißt die (männlichen) Täter sind an sexuellen Kontakten mit Jungen interessiert. Sie bemühen sich um eine gewaltfreie, möglichst sogar personal getragene Beziehung zu den oft idealisierten Jungen. Dabei suchen sie die Nähe des kindlichen Körpers, von dem für sie ein ganz spezifischer Reiz ausgeht. Vom Tatgeschehen her überwiegen genitale Berührungen und der Wunsch nach Oralstimulierung des kindlichen Genitales beziehungsweise umgekehrt die Aufforderung, vom Kind manuell oder oral stimuliert zu werden. Versuchter oder vollendeter Koitus (beziehungsweise Analverkehr) werden zwar mitunter auch bei sehr jungen Opfern beobachtet, sind aber Ausnahmen.

Hinsichtlich der Prognose lässt sich anhand empirischer Daten aus aufwändigen Nachuntersuchungen
hyperlink belegen, dass die biografische Relevanz der »dissexuellen« Verhaltensbereitschaft bei den »genuinen« Pädophilen überdauernd ist, während sie beispielsweise für die sexuell unerfahrenen Jugendlichen als episodenhaft beziehungsweise lebensphasisch angesehen werden kann. So missbrauchen Männer mit einer pädophilen Hauptströmung in 80% der Fälle im Laufe ihres weiteren Lebens erneut ein Kind, Jugendliche aber nur in weniger als 10% der Fälle.

Daher kommt es aus klinischer Sicht vor allem auf die korrekte diagnostische Unterscheidung zwischen Ersatzhandlung und Neigungstat an, zumal sich hieraus eben nicht nur prognostische Schlussfolgerungen, sondern auch Möglichkeiten und Grenzen therapeutischer Maßnahmen ableiten lassen. Leider wird jedoch nur eine Minderheit der justizbekannten Täter begutachtet (maximal 20%), weshalb auch nur von den wenigsten bekannt ist, ob eine derartige (erheblich prognoserelevante!) pädophile Neigung vorliegt. Hinzu kommt eine - durch mangelnde Qualifikation bedingte - diagnostische Unsicherheit vieler Gutachter, was mit der Gefahr verbunden ist, dass eine pädophile Neigung gar nicht erkannt wird. Die pädophile Neigung ist eine nicht mehr veränderbare Sexualstruktur, und deshalb wäre eine »sexuelle Umorientierung« ein gänzlich unrealistisches Therapieziel - gleichwohl wird dieses häufig genug noch von gutwilligen, aber fachlich nicht adäquat qualifizierten Therapeuten versucht. Auch fehlen diesen meist Kenntnisse über die hocheffektiven Möglichkeiten der medikamentösen Entdynamisierung sexueller Impulse, welche gerade Neigungstätern oftmals zusätzlich weiterhelfen können.

Ausblick

Die Häufigkeit sexueller Übergriffe im Kindes- und Erwachsenenalter zeigt im Hellfeld ein zwar nicht zunehmendes, gleichwohl aber beunruhigendes Ausmaß. Berücksichtigt man zudem die verfügbaren Daten aus repräsentativen Dunkelfelduntersuchungen, so muss man zu dem Schluss gelangen, dass die sexuelle Traumatisierung von Mädchen, Jungen und Frauen ein ernstes Problem unserer Gesellschaft ist und demzufolge alle Bemühungen zur Veränderung dieser Situation hohe Priorität haben sollten.

Neben Hilfen für die Opfer stellen sich dann insbesondere Fragen nach der Prävention, das heißt der Verhinderung von Sexualstraftaten - sowohl im Hell- als auch im Dunkelfeld.

Unter diesem Gesichtspunkt geraten die Täter in den Blick - entweder um deren Ersttat oder um eine Rückfalltat zu vermeiden. Dafür kommen prinzipiell zwei Möglichkeiten in Betracht: Einerseits die Besserung, also die Einwirkung auf (auch potentielle) Täter um eine Verhaltensänderung herbeizuführen (zum Beispiel durch Behandlung), andererseits die Sicherung, wenn eine solche Einwirkung nicht möglich ist. Da die Gesellschaft (schon mengenmäßig) niemals alle Täter »sichern« kann und sich auch nicht alle Täter »bessern« lassen, bleibt bei nüchterner Betrachtung nur eine realistische Vorgehensweise, um diese Prinzipien umzusetzen: Die präzise diagnostische Erfassung möglichst vieler Täter im Hell- und Dunkelfeld sowie die Bereitstellung adäquater Behandlungs- und Sicherungsplätze.

Da der Täter eine diagnostische Einschätzung in aller Regel für sich selbst nicht vorzunehmen vermag oder - wenn er es kann - diese eher nicht kundtun wird, hängt alles an der diagnostischen Kompetenz des Untersuchers, sofern überhaupt eine solche Untersuchung durchgeführt wird, was selbst im Hellfeld (schätzungsweise) bei lediglich 10 % der Täter der Fall sein dürfte (wobei noch hinzu kommt, dass derzeit in die allermeisten Begutachtungen aufgrund fehlender eigener Behandlungserfahrungen der Gutachter kaum Kenntnisse über therapeutische Optionen bei Sexualstraftätern einfließen).

Dies ist insofern misslich, als von der Prognoseforschung längst deutliche Unterschiede in der Gefährlichkeit der verschiedenen »Tätertypen« herausgearbeitet worden sind und zudem ein differenziertes Spektrum therapeutischer Möglichkeiten vorliegt, das von Behandlungsverfahren mit sexualpädagogischem, sozial-stützendem, psychotherapeutischem und sexualmedizinischem Schwerpunkt bis hin zur Einbeziehung medikamentöser Optionen (Antiandrogene, Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) reicht und auch Überlegungen zu den Rahmenbedingungen einer Behandlung von Straffälligen einschließt.
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Realität ist aber derzeit, dass ein behandlungswilliger Täter aus dem Dunkelfeld, der um seine pädophile Neigung weiß und selbst einen weiteren Impulsdurchbruch verhindern möchte, kaum einen Therapeuten finden wird, der über ausreichende diagnostische und therapeutische Fertigkeiten verfügt, um einerseits das Störungsbild korrekt zuzuordnen und andererseits adäquate (einschließlich medikamentöser) Behandlungsverfahren bereitzustellen.

Aber selbst im Hellfeld fehlt es an ausreichenden Maßnahmen, um Rückfälle von (justizbekannten) Sexualstraftätern zu verhindern. Zwar ändert sich eine pädophile Neigung nicht durch den Haftaufenthalt, aber es gabt in ganz Deutschland derzeit kaum geeignete Nachbetreuungsstrukturen für die Zeit nach der Inhaftierung. Auch ist zu befürchten, dass die jetzt erkennbaren Bemühungen, bis 2003 genügend Therapieplätze für Sexualstraftäter in Haftanstalten zu schaffen, vor allem formalen Gesichtspunkten Rechnung tragen.

So bleibt ein Unbehagen im Spannungsfeld zwischen Justiz, Gesellschaft, Opfern, Tätern, Therapeuten und Gutachtern. Aus fachwissenschaftlicher Sicht wirkt der gesellschaftliche Umgang mit sexuellen Verhaltensabweichungen inkonsequent, inkompetent und intransparent: Zum einen hat sich die Medienlandschaft in breiter Form aller Spielarten des sexuellen Verhaltens angenommen und läßt vom Voyeur über den transvestitischen Fetischisten bis hin zum Zoophilen alle Betroffenen gerne zu Wort kommen, wobei das Motto gilt: »Alles was Spaß macht, ist erlaubt, solange kein anderer Schaden nimmt«. Diese Offenheit läßt sich auch gegenüber sado-masochistischen Zirkeln finden: Allen, die Einblick geben in ihre sadistischen Fantasien, ohne dies mit nicht einwilligenden oder nicht einwilligungsfähigen Personen zu praktizieren, ist ein breites Medieninteresse gewiß, weil dies die Einschaltquoten hebt. Die Angebote im Pornograflemarkt und in der Prostitutionszene - vermittelt über Fernsehen sowie neuerdings das Internet - erreichen bereits strafrechtliche Zonen, so zum Beispiel wenn der Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern erfüllt wird. Auf der anderen Seite sind die Reaktionen der Gesellschaft sehr drastisch, wenn Opfer zu beklagen sind - insbesondere getötete Kinder haben aufruhrähnliche Stimmungslagen (obschon kriminalstatistisch der sexuelle Missbrauch von Kindern mit Todesfolge außerordentlich selten ist - 1996 insgesamt 7 Fälle) und 1998 die erwähnte Verschärfung des Sexualstrafrechts zur Folge gehabt.

Legt man zugrunde, dass letztlich alle Menschen der Wunsch nach einem verbesserten Opferschutz verbinden sollte, dann wirken diese Widersprüche verwirrend. Auflösen lassen sie sich vermutlich aber nur, wenn man sowohl die Normwidrigkeit sexueller Übergriffe unmissverständlich und mit aller Härte proklamiert, gleichzeitig aber präventive Maßnahmen massiv verstärkt und Brücken baut für diejenigen Täter, die ein Veränderungsmotiv aufweisen und ebenfalls potentielle Opfer (vor sich) schützen wollen. Hiervon sind wir in derTat noch weit entfernt, und gerade weil das Thema so irrational besetzt - und in unserer Mitte - ist, wird man ein solches Ziel nur durch überzeugende Öffentlichkeitsarbeit und breite Unterstützung der Politik realisieren können.

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Anmerkungen

(1.)Für den gesamten Text vgl. Klaus M. Beier, Hartmut A. G. Bosinski, U. Hartmann u. K. Loewit, Sexualmedizin. Grundlagen und Praxis, München 2001.
(2.) M. Schedlowski, U. Tewes (Hrsg.), Psychoneuroimmunologie, Heidelberg 1997.
(3.) C. Pert, Moleküle der Gefühle. Körper, Geist und Emotion, Reinbek 1999.
(4.) Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt/Main 1976.
(5.) H. Ellis, Das Geschlechtsgefühl, Leipzig 1903, S. VIl f.
(6.) H. Ellis, Das Geschlechtsgefühl, S.A.D. Tissot, Uonanisme. Dissertation sur les maladies produites par la masturbation, Paris 1760/1905, zit. N. H. Giese (Hg.), Die sexuelle Perversion, Frankfurt/Main 1967, S.10-18; R. v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung, Stuttgart 1886.
(7.) Albert Moll, Untersuchungen über die Libido sexualis, Berlin 1896.
(8.) Vgl. S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Leipzig/Wien 1905
(9.) F. Morgenthaler, Homosexualität - Heterosexualität - Perversion, Frankfurt/Main 1987.
(10.) Vgl. S. Mentzos, Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven, Frankfurt/Main 1990, S. 207.
(11.) F.B.M. de Waal, Wilde Diplomaten. Versöhnung und Entspannungspolitik bei Affen und Menschen, München
1991.
(12.) Vgl. K. M. Beier, Dissexualität im Lebenslängsschnitt. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Phänomenologie und Prognose begutachteter Sexualstraftäter. Monographien aus dem Gesamtgebiet der Psychiatrie, Bd. 78, Berlin 1995.
(13.) Vgl. K. Hartmann, Theoretische und empirische Beiträge zur Verwahrlosungsforschung, Berlin 1970 und U. Rauchfleisch, Dissozial. Entwicklung, Struktur und Psychodynamik dissozialer Persönlichkeiten, Göttingen 1981.
(14.) Aus: K. M. Beier et al., Sexualmedizin, S. 341.
(15.) C. Ernst, Zu den Problemen der epidemologischen Erforschung des sexuellen Mißbrauchs, in: G. Amann/R. Wipplinger (Hg.), Sexueller Missbrauch. Überblick zu Forschung, Beratung und Therapie. Ein Handbuch, Tübingen 1997, S. 69.
(16.) Vgl. K. M. Beier et al., Sexualmedizin.
(17.) Siehe im Überblick: C. Ernst, Zu den Problemen der epidemologischen Erforschung des sexuellen Mißbrauchs und D. Finkelhor, Zur internationalen Epidemiologie von sexuellem Mißbrauch an Kindern, in: G. Amann/R.Wipplinger (Hrsg.), Sexueller Mißbrauch, S. 72-85.
(18.) P. P. Wetzels, Prävelenz und familiäre Hintergründe sexuellen Kindesmißbrauchs in Deutschland: Ergebnisse einer repräsentativen Befragung, in: Sexuologie 2,1997, S. 89-107.
(19.) Siehe dazu die Diskussion bei P. P. Wetzels, Prävelenz und familiäre Hintergründe sowie die Untersuchung von C. Lange, Sexuelle Gewalt gegen Mädchen. Ergebnisse einer Studie zur Jugendsexualität, Beiträge zur Sexualforschung H.75, Stuttgart 1998.
(20.) Vgl. J. H. Beitchman et al., A review of the short-term effects of child sexual abuse. Child Abuse & Neglect 15,1991, S. 537-556; K. A. Kendall-Tackett et al., Die Folgen von sexuellem Mißbrauch bei Kindern: Review und Synthese neuerer empirischer Studien, in: G. Amann/R. Wipplinger (Hrsg.), Sexueller Mißbrauch, S. 151-186.
(21.) Vgl. H. A. G. Bosinski, Sexueller Kindesmißbrauch. Opfer, Täter und Sanktionen, Sexuologie 2 (4), 1997, S. 67-88.
(22.) M. C. Baurmann geht davon aus, dass bei sexuellen eine Dunkelziffer von 1:5 bis 1:10 anzunehmen ist und errechnet aus diesen Angaben eine tatsächliche Zahl von ca. 65.000 bis 130.000 Vergewaltigungen bzw. sexuellen Nötigungen in der Bundesrepublik, M. C. Baumann, Sexualität, Gewalt und psychische Folgen. BKA-Forschungsreihe, Bd.15, Wiesbaden 1996 (2. Aufl.). Bei retrospektiven Dunkelfelduntersuchungen ergibt sich erneut das Problem der Definition, der Erhebungsmethode und der untersuchten Population, s. dazu M. P. Koss, Detecting the scope of rape: A review of prevalence research methods. J Interpers Vol. 8,1993, S. 198-222.
(23.) Vgl. B. Krahe, Sexual aggression among adolescents: Prevalence and predictors in a german sample. Psych. Women Quarterly 22, 1998, S. 537-554.
(24.) Vgl. K. M. Beier, Dissexualität im Lebenslängsschnitt.
(25.) Vgl. K. M. Beier et al., Sexualmedizin sowie K. M. Beier und G. Hinrichs, Psychotherapie mit Straffälligen. Standort und Thesen zum Verhältnis Patient-Therapeut-Justiz, Stuttgart 1995.