Sigusch, Volker (Hrsg.),
Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Thieme Verlag Stuttgart/ New York 1997

KAPITEL 16
SEXUELLER MISSBRAUCH UND PÄDOSEXUALITÄT

VON MARTiN DANNECKER

Sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern werden gegenwärtig unabhängig von der Art und Weise dieser Kontakte, von deren Intensität und Dauer und vom Geschlecht der daran Beteiligten als "sexueller Mißbrauch" deklariert. Gegen die Subsumtion so unterschiedlicher Phänomene wie pädosexuelle Beziehungen, gewaltlose Verführungen von Kindern durch Erwachsene, gewaltsame sexuelle Attacken gegen Kinder, pädosexuelle Gelegenheitshandlungen durch sozial Desintegrierte, exhibitionistische Handlungen vor Kindern oder langdauernde inzestuöse Beziehungen unter den Ausdruck "sexueller Mißbrauch" wurde von vielen Seiten Einspruch erhoben. Kritisiert wurde beispielsweise die begriffliche Gleichsetzung der differenzierten Beziehungen pädosexueller Männer zu ihren kindlichen Liebesobjekten mit gewaltsamen sexuellen Attacken Erwachsener gegen Kinder (Lautmann 1994; Hoffmann 1996). Eberhard Schorsch (1989: 144) rnonierte die in der Mißbrauchsdebatte vorhandene Tendenz, die Sexualität zu einem Faktum zu reduzieren, die sexuelle Handlung, den sexuellen Akt überzubewerten, zu isolieren und zu einem Trauma an sich zu erheben, ohne auf den Beziehungshorizont, in dem eine sexuelle Handlung geschieht, abzustellen und zu differenzieren". Hertha RichterAppelt (1994) hat gegen die in einem Großteil der neuen Studien vorfindbare Isolierung des sexuellen Mißbrauchs von anderen infantilen sexuellen oder nichtsexuellen Traumata Einspruch erhoben. "Wie will man denn wissen", so schreibt sie (ebd.: 122), "daß nicht körperliche Strafen, seelische oder körperliche Vernachlässigung, Spannungen zwischen den Eltern, die dem sexuellen Mißbrauch meist vorausgegangen sind, die schwerwiegenderen Traumatisierungen darstellen, so daß der sexuelle Mißbrauch vielleicht nur noch als harmlos in dieser Kette von Traumatisierungen erscheint, ja unter Umständen die einzige ,liebevolle', wenn auch sicherlich falsche Zuwendung darstellt?"
Kritische Einwände dieser Art sind Reflexe auf die in der öffentlichen Debatte über den sexuellen Mißbrauch fraglos vorhandenen Übertreibungen (vgl. hierzu Rutschky 1992, 1994). Die Deutungsmacht, mit der der Ausdruck "sexueller Mißbrauch" versehen ist, vermögen sie jedoch nicht entscheidend zu schmälern. Auch RichterAppelt geht von der Vorannahme einer Traumatisierung durch sexuellen Mißbrauch in der Kindheit aus. Wenn der sexuelle Mißbrauch jedoch eine Traumatisierung zur Folge hat, dann verliert er diese Qualität nicht durch andere schwerwiegende infantile Traumatisierungen, Die Argumentation von RichterAppelt und die dazu von ihr vorgelegten empirischen Befunde (RichterAppelt 1995) sind zwar geeignet, die reduktionistische und monokausale Zurückführung psychischer und sexueller Störungen auf den sexuellen Mißbrauch zu relativieren. Die an dem Ausdruck "sexueller Mißbrauch" klebenden grundsätzlichen Bedeutungen werden dadurch jedoch nicht geschmälert.

Auch die von Schorsch an der Mißbrauchsdebatte kritisierte Abstraktion von dem jeweiligen Beziehungshorizont, in dem ein sexueller Kontakt zwischen dem Erwachsenen und dem Kind stattgefunden hat, führt aus den Schwierigkeiten des Themas nicht heraus. In welche Konstellation die als Mißbrauch deklarierten sexuellen Kontakte auch jeweils eingelassen sein mögen: An den als Mißbrauch bezeichneten sexuellen Kontakten sind immer ein Erwachsener und ein Nichterwachsener beteiligt. Das ist keineswegs trivial. Denn allein daraus konstituiert sich, diesseits des je konkreten Beziehungshorizonts, ein universaler Beziehungshorizont, der mit der kulturellen Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern gesetzt ist. Diese Differenz, die auch eine Differenz der Entwicklung impliziert, kann im Sexuellen so wenig hintergangen werden wie sonst in Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern. Die Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen verleiht jedem sexuellen Kontakt zwischen ihnen eine besondere Bedeutung und durchdringt alle nur denkbaren Beziehungskonstellationen, in die diese Kontakte eingelassen sind. Das heißt freilich nicht, daß die konkreten Beziehungskonstellationen völlig irrelevant wären. Wichtig ist ihre Berücksichtigung insbesondere bei der Rekonstruktion der unterschiedlichen psychischen Verarbeitung von Mißbrauchserlebnissen. Gleichwohl sind die konkreten Beziehungskonstellationen nur von sekundärer Bedeutung, weil sie die Ungleichzeitigkeit, die die Sexualität der Erwachsenen von der der Kinder trennt, und die von ihr ausgehende Dynamik nicht aufheben können.
An dieser Ungleichzeitigkeit hält der Ausdruck sexueller Mißbrauch und die mit ihm allemal zusammengedachte Traumatisierung entschieden fest. Sexuelle Mißbrauchshandlungen werden deshalb, wie es Lilli Gast (1993: 37) formulierte, begriffen als "Gewalt und Zerstörung der psychischen Realität, Integrität und Sexualität des kindlichen Subjekts". In der Psychoanalyse hat der sexuelle Mißbrauch gegenwärtig insofern keinen anderen Status als in der Freudschen Verführungstheorie, als er damals wie jetzt aufs engste mit Traumatisierung zusammengebracht wird. Im Unterschied zu der von Freud in seiner Verführungstheorie vertretenen Auffassung ist er zwar nicht mehr das "caput Nili der Neuropathologie" (Freud 1896: 439). Aber die sexuelle Verführun eines Kindes durch einen
Erwachsenen war für die Psychoanalyse immer gleichbedeutend mit einem pathogenen Ereignis. An diesem Status der infantilen Verführung hat das Aufgeben der Verführungstheorie durch Freud nach 1897 nichts geändert.
Die nicht nur von der Psychoanalyse vorgenommene Identifizierung des sexuellen Mißbrauchs mit einem psychischen Trauma wirft eine ganze Reihe von Problemen auf. Zu klären ist zum einen, wie denn eine "sexuelle Kommunikation" zwischen Erwachsenen und Kindern beschaffen sein muß, um zu Recht als sexueller Mißbrauch deklariert zu werden. Das ist nicht nur eine Frage von theoretischer Relevanz, sondern wegen der qua Skandalisierung des sexuellen Mißbrauchs fragwürdig gewordenen Nähe zwischen Erwachsenen und Kindern auch eine Frage von höchst praktischer Bedeutung. Nach der lauten und oft undifferenzierten öffentlichen Debatte über den sexuellen Kindesmißbrauch müssen, wie es RichterAppelt (1995: 74) ausdrückt, "Überlegungen angestellt werden, was denn erlaubte angenehme sexuelle Berührungen sind".

Die Abgrenzung zwischen dem "erlaubt" Sexuellen und dem "diskreditiert" Sexuellen in der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern wirft deswegen beträchtliche Schwierigkeiten auf, weil Sexuelles in diesen Beziehungen immer auch anwesend ist. Anwesend ist das Sexuelle in den Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern aber gleichsam freischwebend, sozusagen auf hintergründige Weise. Sexuelles durchzieht die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern von Anbeginn an. Aber es sollte nach den Vorstellungen kultureller Normalität nie als eine in der Weise ausgeformte Sexualität auftreten, wie wir sie von der erwachsenen Sexualität her kennen. Das bedeutet zuallererst, daß aus der in den intimen Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern eingelassenen sexuellen
Kommunikation d ng ausgeklammert bleibt. Sowohl der Erwachsene als auch das Kind sollten sich bei ihrem intimen Spiel ausschließlich innerhalb des Bereichs der Vorlust bewegen. Schlägt in diesem Spiel beim Erwachsenen die Vorlust in Lust und sexuelle Erregung um, ist die Grenze zum sexuellen Mißbrauch erreicht. Bereits dadurch nämlich verändert sich die Beziehung zu dem Kind qualitativ, und es wird zu einem potentiellen Objekt der Befriedigung erwachsener sexueller Wünsche. Überschritten wird die Grenze zum sexuellen Mißbrauch, wenn die von dem Erwachsenen gespürte Lust und sexuelle Erregung in eine sexuelle Aktion transforiniert wird.
Der sexuelle Mißbrauch eines Kindes durch einen Erwachsenen besteht im Kern darin, daß das Kind nach den Bedingungen und Bedeutungen, die die Sexualität für den Erwachsenen hat, behandelt wird. Sandor Ferenczi hat den Umschlag von Sexuellem in Sexualität, von Vorlust in Lust im intimen Kontakt zwischen Erwachsenen und Kindern folgendermaßen beschrieben: "Ein Erwachsener und ein Kind lieben einander; das Kind hat die spielerische Phantasie, mit dem Erwachsenen die Mutterrolle zu spielen. Das Spiel mag auch erotische Formen annehmen, bleibt aber nach wie vor auf dem Zärtlichkeitsniveau. Nicht so bei pathologisch veranlagten Erwachsenen ( ... ). Sie verwechseln die Spielereien der Kinder mit den Wünschen einer sexuell reifen Person oder lassen sich, ohne Rücksicht auf die Folgen, zu Sexualakten hinreißen" (Ferenczi 1932 : 518). Nach den Vorstellungen Ferenczis wird eine infantile Verführung durch einen Erwachsenen in Szene gesetzt, der die Spielereien der Kinder mit den Wünschen einer sexuell reifen Person, das heißt seinen eigenen Wünschen, verwechselt. Dieser Erwachsene ist bei ihm ein "pathologisch veranlagter" Erwachsener. Mit dieser Rückbindung der infantilen Verführung bzw. des sexuellen Mißbrauchs an eine pathologische Struktur hat Ferenczi das von ihm beschriebene erotische Spiel zwischen Kindern und Erwachsenen jedoch um die in ihm allemal enthaltene Brisanz gebracht. Denn es ist ja gerade nicht so, daß nur "pathologisch veranlagte" Erwachsene im erotischen Spiel mit Kindern in eine Situation geraten können, in der die Gefahr einer Verwechslung des kindlichen sexuellen Ausdrucks und der kindlichen sexuellen Wünsche mit den Wünschen einer reifen Person auftaucht. In diese Situation können auch nicht "pathologisch veranlagte" Erwachsene geraten, wenn sie sich in intime und körperliche Nähe zu Kindern begeben. Ein gewisses Maß an Erregung ist in dieser Nähe gar nicht zu vermeiden. Dadurch aber wird die Sexualität gleichsam in Schwingung versetzt, was zu der kritischen Situation führen kann, Sexuelles dem Kind gegenüber in der Sprache der erwachsenen Sexualität auszudrücken.
Im erotischen Spiel mit dem Kind muß der Erwachsene deshalb seine Sexualität in einen anderen als den erwachsenen Aggregatzustand zurückführen und sie dadurch zugleich entformen. Gelingt ihm das nicht, wird er entweder den intimen Kontakt zu Kindern meiden oder aber einen sexuellen Mißbrauch in Szene setzen. Die von nicht "pathologisch veranlagten" Erwachsenen im erotischen Spiel mit Kindern erlebten sexuellen Anfechtungen geben denn auch das emotionale Unterfutter für die rachsüchtige Verfolgung derjenigen ab, die aus welchen Gründen auch immer der Gefahr der Verwechslung der kindlichen mit der erwachsenen Sexualität erlegen sind und die verführerische Situation in einen sexuellen Akt transformierten.
Aus dem bisher Gesagten folgt, daß der sexuelle Mißbrauch nicht über die Art und Weise des sexuellen Kontakts zwischen Erwachsenen und Kindern bestimmt werden kann. Ob es bei einem solchen Kontakt überhaupt zu Berührungen, genitalen oder sonstigen, kommt oder nicht, ob dabei Gewalt im geläufigen Sinn eingesetzt wird oder nicht, ist für die Bestimmung des sexuellen Mißbrauchs völlig unerheblich. Deshalb fallen die von Lautmann (1994) befragten pädosexuellen Männer auch nicht aus der Mißbrauchsfigur heraus, obwohl sie, was er überzeugend nachweisen kann, mit ihren kindlichen Liebesobjekten sexuell nicht mehr, sondern eher weniger machen als das, was unter Erwachsenen üblich ist, und normalerweise keine Gewalt im alltäglichen Sinn zur Durchsetzung ihrer sexuellen Wünsche einsetzen. Gerade am strukturierten Pädosexuellen, von dem Lautmanns Studie "Die Lust am Kind" handelt, kann klar gezeigt werden, was die These von der Ungleichzeitigkeit der Sexualität von Erwachsenen und Kindern besagt. Und Lautmann liefert, wohl entgegen seinen Intentionen, reiches Material zur Illustration dieser These.
Der strukturierte Pädosexuelle zeichnet sich dadurch aus, daß er sich seiner sexuellerotischen Interessen an Kindern bewußt ist und auf seiner sexuellen Orientierung eine Sexualform errichten möchte. Dabei scheitert er jedoch beständig, und zwar zuallererst an der Ungeformtheit der kindlichen Sexualität und der Formbestimmtheit seiner eigenen. Immer wieder wird er veranlaßt, die, gemessen an der erwachsenen Sexualität, präsexuelle kindliche Sexualität in der ihm gemäßen Sprache zu interpretieren oder die offenkundig nichtsexuelle Lust in sexuelle umzudeuten, wie ein Interviewpartner von Lautmann erkennen läßt: "Mein erster Freund mochte gern massiert und mit den Fingerspitzen gekrabbelt werden am Rücken; darauf war der unheimlich geil" (Lautmann, ebd.: 105; Hervorheb. M. D.). Die Ungleichzeitigkeit zwischen dem Pädosexuellen und dem Kind, mit dem er eine Beziehung zu haben glaubt, wird schon dadurch gesetzt, daß jener im Gegensatz zu diesem über ein sexuelles Objekt verfügt. Angeeignet hat er sich das Objekt frühestens in der Pubertät. Zwar werden die entscheidenden Weichen für die spätere Sexualorganisation schon in der frühen Kindheit gestellt. Aber erst nach der Pubertät erwirbt ein Individuum ein Bewußtsein seiner in der Kindheit präformierten Sexualorganisation. Nicht anders verhält es sich mit der Qbjektgewinnung bzw. Objektaneignung: In der Pubertät wird das präformierte Sexualobjekt sowohl bewußt als auch zentriert, und um dieses Objekt herum werden sexuelle Wünsche, Vorstellungen und Abneigungen organisiert. Mit der bewußten Aneignung des sexuellen Objekts wird auch ein wesentliches Stück der sexuellen Identität gebildet und angeeignet. Man beginnt, sich entlang seines Sexualobjekts als heterosexuell, homosexuell, bisexuell oder auch pädosexuell wahrzunehmen.
Für das Sexualleben ist die Verfügung über ein sexuelles Objekt insofern von Bedeutung, als schon aus den Reizen, die von dem präferierten Objekt ausgehen und durch die auf das Objekt zielenden erotischsexuellen Interessen sexuelle Lust gewonnen werden kann. Über eine solche Objektlust verfügt nur der pädosexuelle Erwachsene, nicht aber das Kind. Es ist deshalb auch widersinnig, die kindliche Sexualität unter dem Blickwinkel der Pädosexualität zu betrachten. Genaugenommen kann nicht einmal von einer pädosexuellen Beziehung gesprochen werden, weil in dieser "Beziehung" ein wesentliches Moment erotischsexueller Beziehungen fehlt, nämlich. die grundsätzlich mögliche Rreziprozität der Objekte der miteinander Verbundenen.
Die Kluft, die zwischen Kindern und Erwachsenen im Hinblick auf die Konturierung des Sexualobjektes und die Strukturierung der Sexualität herrscht, bringt es notwendig mit sich, daß dem Kind bei einem sexuellen Kontakt mit einem Erwachsenen das Sexualobjekt aufgedrängt wird. Pädosexuellen Männern ist die in ihren Beziehungenfehlende Reziprozität durchaus bewußt. Im Grunde wissen und fühlen sie, daß sie, selbst dann, wenn es zu sexuellen Kontakten mit ihren "Freunden" oder "Freundinnen" kommt, n

. Dieser Hiatus wird besonders deutlich, wenn wir uns den Anfang einer pädosexuellen Begegnung vergegenwärtigen.
Ein Mann sieht irgendwo einen Jungen, der ihm gefällt. Er möchte diesen Jungen kennenlernen, weil er sich wünscht, mit ihm eine Beziehung einzugehen. Und schon phantasiert er, was er mit ihm alles anstellen könnte, wobei diese Phantasien durchaus auch sexuell eingefärbt sind. Immer noch ist der Blick des Mannes an den Jungen seines Wohlgefallens geheftet. Dieser bemerkt nun seinerseits den Blick des Erwachsenen und denkt sich auch so manches. Was er sich aber, sofern er bislang noch keine sexuellen Erfahrungen mit Erwachsenen gemacht hat, nicht vorstellen wird, ist, daß der ihn so aufmerksam betrachtende Mann auch Sexualität mit ihm haben möchte. Im Gegensatz zu dem pädosexuellen Erwachsenen ist der Junge also keineswegs sexuell vorgestimmt. Zwischen dem Kind und dem Erwachsenen herrscht demnach schon bei der ersten Begegnung eine Disparilät der Wünsche, und diese Disparität ist auch nicht durch die vielleicht miteinander erlebte Sexualität zu überbrücken, weil das eine Verlangen über eine Struktur und ein Objekt verfügt und das andere vergleichsweise diffus und objektlos ist. Das kindliche Objekt vermag zwar (und tut das auch oft) die irgendwann erkannten sexuellen Wünsche des Pädophilen zu erfüllen. Das Referenzsystem dieser Sexualität ist aber nicht das eigene sexuelle Verlangen, sondern das des anderen.
Abzulesen ist das daran, daß die Kinder zumeist nur passiv geschehen lassen, was der andere sich wünscht, und kaum (oder nur widerständig) aktiv dessen Wünsche erfüllen (vgl. hierzu Lautmann 1994: 114 f.).

Lautmanns Studie, deren großes Verdienst es ist, den pädosexuellen Männern zum Ausdruck verholfen zu haben, ist durchzogen von Passagen, die zeigen, mit welcher Anstrengung diese Männer versuchen, eine Situation herzustellen, die es ihnen ermöglicht zu glauben, die sexuellen Wünsche ihrer Liebesobjekte seien mit ihren eigenen kongruent. Lautmann (ebd.: 98) hält diese Anstrengung für einen Ausdruck dafür, daß die pädosexuelle Beziehung "über ein ungewöhnlich differenziertes Konzept zum Konsens" verfügt. Er übersieht dabei freilich die passive Position des Kindes bei der Konsensbildung, denn es sind nach seinem eigenen Befund die Liebhaber und nicht die Kinder, die in "sprachlicher, zeitlicher und sachlicher Hinsicht" (ebd.: 99) das "Vorgehen" strukturieren. Wie auch andere verwechselt Lautmann die Abwesenheit offensichtlicher Gewalt bei der Durchsetzung des strukturiert pädosexuellen Wunsches mit einem auf Freiwilligkeit basierenden Verhältnis. Ein noch nicht zu seiner Form gekommenes sexuelles Verlangen aber kann keinen freien Willen enthalten, sondern nur ja oder nein zu dem sagen, was der strategische Wille der erwachsenen Sexualität formuliert hat.
Wie mächtig dieser erwachsene sexuelle Wille ist, zeigt sich noch einmal schlaglichtartig, wenn das pädosexuelle Objekt durch den Eintritt in die Pubertät in das Vorstadium der sexuellen Reife kommt und sich die sexuellen Inhalte und Bedeutungen aneignet, über die es vorher nicht verfügte. Dann ist auch die pädosexuelle Beziehung an das ihr vorgegebene Ende angelangt. Denn in dieser Zeit erlischt das auf tragische Weise mit der Unreife und dem damit einhergehenden Weniger an sexuellen Bedeutungen und Inhalten verschränkte pädosexuelle Verlangen und macht sich, da es nun einmal so strukturiert ist, auf die Suche nach einem neuen unreifen Objekt. Hier zeigt sich die Aporie, von der die Pädosexualität gezeichnet ist. Obwohl Pädosexuelle beständig gegen das Tabu wettern, das ihnen den Kontakt mit den sexuell Unreifen verbietet, und durch ihr Tun gleichsam den praktischen Beweis antreten möchten, daß auch Kinder reif für die Sexualität seien, sind sie mit dem Unreifen und Unfertigen und vermittelt darüber mit der sozialen, psychischen und körperlichen Markierung der Grenzen zwischen Kindheit und Erwachsensein unauflöslich verkettet. Immer dann, wenn sie sich von ihren Liebesobjekten zurückziehen, weil diese in das Stadium der Reife eingetreten sind, bestätigen die Pädosexuellen gleichsam individuell den zentralen Inhalt des Tabus der Minderjährigkeit, der besagt, daß es in sexueller Hinsicht bedeutsame und zu respektierende Differenzen zwischen Kindern und Erwachsenen gibt.
Was bislang am Beispiel von sexuellen Kontakten zwischen pädosexuellen Erwachsenen und Kindern dargestellt wurde, gilt grundsätzlich auch für alle anderen sexuellen Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern. Zu klären ist freilich noch die mit dem Begriff des sexuellen Mißbrauchs immer zusammengedachte generelle Traumatisierung des Kindes. Schorsch (1989) hat die Generalisierung der Schädlichkeit von frühen sexuellen Erfahrungen bestritten. Hinter einer solchen Generalisierung stecke ein verdinglichter Sexualitätsbegriff, der der sexuellen Handlung als solcher, unabhängig von ihrem Kontext, eine bestimmte Wirkung zuschreibe. Beantworten lasse sich die bei der Beurteilung der sexuellen Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern alles entscheidende Frage nach der Schädlichkeit erst "nach einer genaueren Untersuchung von Einzelfällen" (ebd.: 146), wobei Schorsch freilich bezweifelte, daß aus solchen Ergebnissen generalisierbare Aussagen abgeleitet werden können. Nun herrscht aber zwischen den klinisch untersuchten Einzelfällen und der Generalisierung der Traumatisierung eine enge Wechselbeziehung. Ohne den generellen Traumaverdacht, unter den sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen gestellt sind, käme es überhaupt nicht zu klinischen "Mißbrauchsfällen", weil die Störungen und Ängste, die gegenwärtig mit dem sexuellen Mißbrauch in Zusammenhang gebracht werden, ohne ein solches Vorwissen anderen Lebensereignissen zugeschrieben würden. Umgekehrt laden klinische und empirische Untersuchungen über die Folgen früher sexueller Erfahrungen von Kindern die Vorannahme einer generell mit diesen zusammenhängenden Schädigung immer wieder auf.
Trotz aller Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit hinsichtlich der Folgen des sexuellen Mißbrauchs scheinen die vorliegenden klinischen und empirischen Studien die Aufrechterhaltung des auf den frühen sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Kindern liegenden Traumaverdachts doch zu rechtfertigen. Für jene, die einen sexuellen Mißbrauch erlebt haben, hat das zur Folge, daß sie mit einer besonderen sozialen Aufmerksamkeit und unter Umständen mit professioneller Hilfe rechnen können. Eine solche Perspektive hat mit dem Geständniszwang nichts gemein, dem Kinder seit der öffentlichen Skandalisierung des sexuellen Mißbrauchs zunehmend ausgesetzt werden, wenn sie psychische Störungen und Ängste erkennen lassen. Ein solcher Geständniszwang geht von der unhaltbaren Voraussetzung aus, der sexuelle Mißbrauch habe bestimmte psychische Folgen, aus denen auf das Vorkommen eines solchen Ereignisses geschlossen werden könne. Die Erfahrungen, welche in der Kinderpsychiatrie mit der Behandlung sexuell mißbrauchter Kinder gemacht wurden, lehren aber, daß diese kein typisches klinisches Bild zeigen mit Ausnahme des auffällig sexuell verführerischen und distanzarmen Auftretens sexuell mißbrauchter Mädchen (vgl. hierzu Meyenburg 1995). "Eine solche Distanzarmut", so Meyenburg (ebd.: 84), "ist sonst nur bei wenigen klinischen Syndromen in der kinderpsychiatrischen Praxis zu beobachten, vor allem bei hyperkinetischen Kindern." Was die klinische Erfahrung indes auch lehrt, ist der enge zeitliche Zusammenhang des Auftretens der im großen und ganzen unspezifischen psychischen Störungen mit einer sexuellen Verführung der Kinder durch Erwachsene, und das wiederum ist Grund genug, den generellen Traumaverdacht, unter dem der sexuelle Mißbrauch steht, aufrechtzuerhalten.
Die Schwierigkeiten mit den klinischen und empirischen Studien zum sexuellen Mißbrauch liegen nun aber darin, daß sie zwar Evidenzen für die mögliche Traumatisierung eines Kindes durch sexuelle Verführung liefern, diese aber nicht ausreichend theoretisch zu begründen vermögen. Dadurch bleibt auch nicht so recht nachvollziehbar, warum auch schon kaum invasive und einmalige sexuelle Handlungen eines Erwachsenen an einem Kind so tiefreichende Auswirkungen auf die kindliche Psyche haben sollen, daß diese als Traumata bezeichnet werden müssen.
Wichtige Gedanken zu dieser Frage enthält ein in der gesamten Mißbrauchsdebatte bemerkenswerterweise nicht aufgegriffener Aufsatz von Jean Laplanche (1988) mit dem Titel "Von der eingeschränkten zur allgemeinen Verführungstheorie", auf den die folgenden Überlegungen sich stützen.
Laplanche macht in dieser Arbeit auf eine seit der Verführungstheorie von Freud nicht nur von der Psychoanalyse mitgeschleppten Schwäche bei der Begründung der Traumatisierung der Kinder durch frühe sexuelle Erfahrungen mit Erwachsenen aufmerksam. Denn die bloße Tatsache des, gemessen an dem psychischen Zustand des Kindes, zu frühen Einbruchs der Sexualität ist für die Begründung eines Traumas ebensowenig ausreichend wie der dem Kind zu unterstellende Zustand des Unvorbereitetseins auf das von ihm sexuell Verlangte. Zwar ist das Kind dem plötzlichen Einbruch der erwachsenen Sexualität passiv ausgesetzt, wobei Laplanche freilich deutlich macht, daß sich, je weiter man in der Zeit vorwärtsgeht, mit anderen Worten, je älter die Kinder bei dem ihnen aufgedrängten sexuellen Kontakt sind, immer mehr von ihnen ausgehende Aktivität in die sexuellen Szenen einmischt (ebd.: 206). Die Traumatheorie aber ist eine "Theorie der sogenannten Nachträglichkeit, oder auch des Traumas in zwei Zeiten. Sie fordert, daß sich im menschlichen Unbewußten nur das einschreibt, was zwei zeitlich voneinander getrennte Ereignisse in Beziehung bringt Die erste Zeit, jene des Entsetzens, setzt ein nicht vorbereitetes Individuum einer sexuell höchst bedeutsamen Handlung aus, deren Bedeutung jedoch nicht assimiliert werden kann. Die Erinnerung an sich ( ... ) ist weder pathogen noch traumatisch. Sie wird es nur durch ihre Wiederbelebung bei einer zweiten Szene, welche in assoziative Resonanz mit der ersten tritt" (ebd.: 207). Eine vor der MißbrauchSzene liegende Verführung erblickt Laplanche in Anlehnung an Freud in der von der Mutter in Szene gesetzten "frühzeitigen Verführung". Schon in den "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" bezeichnete Freud (1905: 125) die Weckung des Sexualtriebes durch die Zärtlichkeit der Mutter als unerläßlich für die sexuelle Entwicklung: "Sie erfüllt nur ihre Aufgabe, wenn sie das Kind lieben lehrt; es soll ja ein tüchtiger Mensch mit energischem Sexualbedürfnis werden und in seinem Leben all das vollbringen, wozu der Trieb den Menschen drängt." Sehr viel später kommt Freud wieder auf diesen Gedanken zurück und formuliert luzide die Notwendigkeit der frühzeitigen Verführung des Kindes durch die Mutter: Hier aber berührt die Phantasie den Boden der Wirklichkeit, denn es war wirklich die Mutter, die bei den Verrichtungen der Körperpflege Lustempfindungen am Genitale hervorrufen, vielleicht sogar zuerst erwecken mußte" (Freud 1933: 129).
Der entscheidende Unterschied zwischen dem von Laplanche "infantile Verführung" genannten sexuellen Mißbrauch und der "frühzeitigen Verführung" des Kindes durch die Mutter liegt, wie er betont, in der Differenz zwischen dem Realen und der Wirklichkeit. Die "infantile Verführung" ist ein reales, gleichsam nachzustellendes tatsächliches Ereignis. Im Gegensatz dazu ist die "frühzeitige Verführung" eine der Wirklichkeit des Menschlichen zuzurechnende Tätigkeit, die durch kein reales abgrenzbares Ereignis akzentuiert wird. In der "frühzeitigen Verführung" geschieht das Sexuelle allein über die Phantasie, und zwar dadurch, daß den Interaktionen zwischen Mutter und Kind eine sexuelle Bedeutung unterlegt ist. Wie bei der "infantilen Verführung" tritt auch bei der "frühzeitigen Verführung" dem Kind ein Erwachsener gegenüber. Und diese Konfrontation "zwischen dem Kind und dem Erwachsenen enthält eine grundsätzliche Beziehung zwischen Aktivität und Passivität, eine Beziehung, die an die unvermeidbare Tatsache gebunden ist, daß die elterliche Psyche reicher' ist als jene des Kindes" (Laplanche, ebd.: 223 f.). Der Erwachsene, genauer gesagt die Mutter, rückt dem Kind mit Bedeutsamkeiten oder, wie Laplanche sagt, mit rätselhaften Signifikanten zu Leibe, "die von unbewußten, sexuellen Bedeutungen durchsetzt sind" (ebd.: 224). An das Kind werden demnach in der frühzeitigen Verführung sexuelle Bilder und Szenen herangetragen, die es nicht angemessen assimilieren kann.
In der von Laplanche vorgelegten Theorie wird die traumatische Wirkung des sexuellen Mißbrauchs keineswegs bestritten, sie wird jedoch auf eine andere theoretische Grundlage gestellt. Eröffnet ist damit ein Weg, der es verständlich macht, warum auch relativ harmlose sexuelle Ereignisse und Szenen in der der frühzeitigen Verführung folgenden Zeit so nachhaltige Wirkungen haben können, daß es dadurch zu Traumen kommt. Relativ konfliktlos zu bewältigen scheint die manifeste Sexualität nur dann zu sein, wenn durch die mit der Pubertät einhergehenden Reifeschritte die prinzipielle Möglichkeit vorhanden ist, das durch die frühe Verführung in die Sexualität eingelassene Fremde und Irritierende als einen Teil von sich selbst zu begreifen en und dadurch zu integrieren. Ein zu früher Einbruch realer Sexualität, so lassen sich im Lichte dieser Einsicht die klinischen und empirischen Resultate über die traumatischen Folgen des sexuellen Mißbrauchs deuten, treibt die durch die frühzeitige Verführung im Kind angelegte Verwirrung über das bewältigbare Maß hinaus und führt mit einer nicht als beiläufig betrachtenden
Wahrscheinlichkeit zu zähen sexuellen und psychischen Zerrbildern.

Literatur
Düring, Sonja und Margret Hauch (Hrsg.): Heterosexuelle Verhältnisse. Stuttgart: Enke 1995
Ferenczi, Sändor (1932): Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind (Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft). In: Ders.: Bausteine zur Psychoanalyse. 2., unveränd. Aufl. Bd. III: Arbeiten aus den Jahren 19081933. Bern, Stuttgart: Huber 1964
Freud, Sigmund (1896): Zur Ätiologie der Hysterie. GW, Bd. I. London: Imago 1952
Freud, Sigmund (1905): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GW, Bd. V. London: Imago 1942
Freud, Sigmund (1933): Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW, Bd. XV. London: Imago 1944
Gast, Lilli: Schuld und Phantasie. Anmerkungen zur gegenwärtigen Debatte über den sexuellen Mißbrauch. LuziferAmor 6 (11), 2839, 1993
Hoffmann, Rainer: Die Ordnung der pädophilen Interaktion. Rahmen, Rituale, Dramaturgie. Eine Anwendung der Rahmenanalyse von Erving Goffman. Phil. Diss., Bremen 1994
Laplanche, Jean: Von der eingeschränkten zur allgemeinen Verführungstheorie. In: Ders.: Die allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze. Tübingen: Edition Diskord 1988
Lautmann, Rüdiger: Die Lust am Kind. Portrait des Pädophilen. Hamburg: Klein 1994
Meyenburg, Bernd: Sexueller Mißbrauch von Kindern im Vorschulalter. Klinische Bilder und therapeutische Erfahrungen. In: Düring und Hauch 1995
RichterAppelt, Hertha: Sexuelle Traumatisierungen und körperliche Mißhandlungen. Eine Befragung von Studentinnen und Studenten. In: Rutschky und Wolff 1994
RichterAppelt, Hertha: Sexuelle Traumatisierungen und körperliche Mißhandlungen in der Kindheit. Geschlechtsspezifische Aspekte. In: Düring und Hauch 1995
Rutschky, Katharina: Erregte Aufklärung. Kindesmißbrauch: Fakten & Fiktionen. Hamburg: Klein 1992

Rutschky, Katharina: Sexueller Mißbrauch als Metapher. Über Krisen der Intimität in modernen Gesellschaften oder vom Umschlag der Aufklärung in Mythologie. In: Rutschky und Wolff 1994
Rutschky, Katharina und Reinhart Wolff (Hrsg.): Handbuch Sexueller Mißbrauch. Hamburg: Klein 1994
Schorsch, Eberhard: Kinderliebe. Veränderungen der gesellschaftlichen Bewertung pädosexueller Kontakte. Mschr. Krim. 72, 141146, 1989