Pädophilie - Definition, Abgrenzung und Entwicklungsbedingungen

Abbildung 1 Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen

(z.B. als Berührung, vgl. Montagu 1997) für ein Kind das gleiche wie für einen Erwachsenen (Pädozärtlichkeit)? Inwiefern sind Sinnnlichkeit und Erotik des Kindes und des Erwachsenen miteinander vergleichbar? Oder sprechen beide Seiten verschiedene Sprachen (Schmidt 1998)? Hat ein Kind ein Recht auf Sex? Ist sexueller Missbrauch an Kindern das gleiche wie Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen? All dies sind Fragen, die nicht so ohne weiteres beantwortbar sind. Eine Seite scheint uns jedoch in der heutigen Diskussion immer noch unterrepräsentiert zu sein. Wir wissen noch zu wenig über die kindliche Sexualität. Bernard (1989) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Kinder die Vergessenen sind. Aber gerade hier besteht empirischer Untersuchungsbedarf, bei dem sich der Forschungsgegenstand nicht nur auf sexuelle Kontakte bzw. Handlungen beschränken, sondern auch Beziehungsaspekte mit einbezogen werden sollten.
Kann man Pädophilie behandeln ?
Um der Frage nachgehen zu können, ob man Pädophilie behandeln kann oder nicht, scheint es zunächst erforderlich zu unterscheiden, aus welcher Motivation heraus sich eine betroffene Person in sexualtherapeutische bzw. psychotherapeutische Betreuung begibt (Dahle 1997). Die Personen, die in unserer Einrichtung betreut werden, kann man wie folgt unterscheiden: 1. Da sind zunächst die Personen, die nicht pädophil sind, aber Kinder sexuell missbraucht haben, dafür strafrechtlich verfolgt wurden und vom Gericht die Auflage erhielten, sich in Behandlung zu begeben. Diese Personen erscheinen gewissermassen nicht freiwillig zur Therapie. Sie bekommen entweder mit, dass man mit einem Stempel von der behandelnden Einrichtung weniger Probleme im Umgang mit den Justizorganen hat - oder aber sie nehmen alle Therapieangebote mit der Motivation auf, lieber einen Behandlungsversuch zu beginnen als wieder in den Straf- oder Massregelvollzug zu kommen. 2. Des weiteren kommen zu uns Pädophile, die bereits strafrechtlich belangt wurden, aber von selbst einschätzen können, dass sie ihre Neigung nicht unter Kontrolle haben (vgl. Beier 1998). Die Motivation dieser Personen entspricht einem Leidensdruck und der Angst vor gesellschaftlicher Sanktionierung. Natürlich wollen auch sie nicht wieder in den Strafvollzug, gleichzeitig jedoch erscheinen sie freiwillig zur Betreuung. Wir haben nicht selten beobachtet, dass sie für eine solche Therapie durch Freunde bzw. Bekannte oder Verwandte zusätzlich motiviert wurden. 3. Dann gibt es Pädophile, die nie straffällig wurden, für sich selbst jedoch einschätzen, dass sie mit dieser Neigung nicht zurechtkommen. Sie suchen Beratung und Hilfestellungen zur Bewältigung ihrer Problematik.
Während man bei sexuellen Missbrauchern ohne pädophile Neigungen sehr häufig psychopathologisch auffällige Entwicklungen diagnostizieren kann, weswegen in der Konsequenz psychiatrische und/oder psychotherapeutische Behandlungen angezeigt sind, ist die Sachlage bei Pädophilen deutlich komplizierter. 1. Zunächst sind sie meist keine psychisch kranken Menschen, sondern Personen, die ab der Pubertätszeit sich zu Kindern hingezogen und sich durch diese sexuell erregt fühlen. Gesellschaftliche Normen und Tabuisierungen verhinderten, darüber sprechen zu können, und es ist ihnen klar, dass ihre Empfindungen von anderen Menschen nicht akzeptiert werden. 2. Gleichzeitig werden sie im Falle einer Behandlung mit einem schwierigen Therapieziel konfrontiert: sich etwas "abzugewöhnen", was eigentlich angenehm ist. D.h. der Leidensdruck durch die pädophilen Neigungen selbst ist relativ gering. 3. Zusätzlich ist ein Mangel an adäquaten Therapieangeboten für Pädophile zu beklagen. Da sie meist nicht unter psychischen Erkrankungen leiden, sind psychiatrische und psychotherapeutische Einrichtungen für diese Personen nicht zuständig. Selbst Psychotherapeuten erleben nicht selten eine Art Ohnmacht bzw. Ablehnung gegenüber diesen Personen (Lohse 1993, Schorsch et al. 1996). Spezialabteilungen für sexuelle Auffälligkeiten sind eher rar und existieren losgelöst von der Psychiatrie meist nur in Grossstädten in Form von "Andrologischen Abteilungen" oder "Sexualmedizinischen Beratungsstellen".
Um es gleich vorwegzunehmen: Pädophilie kann man nicht "heilen", aber Therapieversuche scheinen immer noch sinnvoller zu sein als das alleinige "Wegschliessen" (Bernard 1997, Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung 1998). Diese Neigung bleibt meist lebenslang bestehen. Das Ziel einer Therapie besteht vor allem in der Analyse, unter welchen Bedingungen die pädophilen Neigungen verstärkt in Erscheinung treten und unter welchen Bedingungen sie kaum eine Rolle spielen. Aus dieser Sicht gibt es zwei Therapieformen, die oft kombiniert zur Anwendung kommen, jedoch auch eigenständig in Betracht gezogen werden.
Die Personen, die von den Strafverfolgungsorganen geschickt werden, geben sich meist mit einer rein medizinischen Behandlungsform zufrieden. Sie nehmen regelmässig das triebhemmende Medikament "Androcur" zu sich und haben dadurch das Gefühl, unter diesen "Bedingungen" ihre sexuellen Neigungen unter Kontrolle zu haben. 2. Die anderen Personen unterziehen sich einer Psychosexualtherapie. Meist wurden sie als Kinder selbst durch akzeptierte Bezugspersonen sexuell missbraucht (nur ein geringer Teil missbrauchter Kinder wird später pädophil). Sie bleiben auf der Ebene der Empfindungen und der Emotionalität wie Kinder und sind dann stärker gefährdet, ihren Neigungen nachzugehen, wenn sie in Situationen geraten, die ihrer damaligen Missbrauchssituation ähneln: Sie fühlten sich von ihren erwachsenen Vertrauens- und Bezugspersonen - meist den Eltern - vernachlässigt. Sie spüren diese Trauer bei Kindern, denen es genauso ergeht, können sich in sie hineinversetzen und leiden mit. Es erfolgt jedoch eine Vermischung von Kindhaftem und sexuellem Erwachsenensein.
Des weiteren spüren Pädophile nicht selten, wie ihre Neigungen immer dann stärker werden, wenn persönliche Unzufriedenheiten in den Vordergrund treten. Wir kennen verheiratete Pädophile, die immer dann "rückfallgefährdet" sind, wenn vermehrt Partnerprobleme auftreten. In diesem Fall wäre eine Partnerschaftstherapie die folgerichtige Konsequenz. Aber auch berufliche Überlastung erzeugt die Sehnsucht, etwas zu erfahren, was angenehm ist... In diesem Fall besteht das Therapieziel in der Reduktion von Anspannung unter Anwendung von Entspannungstechniken, um so möglichen "Rückfällen" vorbeugen zu können.
Letztendlich wird es bei der Kenntnis all dieser Faktoren den Betroffenen empfohlen, sich so früh wie möglich diesem Problem zu stellen. Sich einem Fachmann anzuvertrauen und über wahrgenommene pädophile Tendenzen zu reden, ohne bereits straffällig geworden zu sein, kann auch Leid von Kindern abwenden, die potentiell gefährdet wären, sexuell missbraucht zu werden. Aus diesem Grunde empfehlen wir allen Personen mit Pädophilie oder dem Drang nach sexuellem Kontakt zu Kindern, sich an eine Beratungsstelle zu wenden.
Ein wesentlicher Punkt wurde bisher nicht thematisiert, sollte aber in der Zukunft mehr Berücksichtigung finden. Dies betrifft den Aspekt der Prävention - die Analyse der Bedingungen, unter denen sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen entstehen, wie sie selbst bewertet, akzeptiert oder abgelehnt werden (Willutzki et al. 1998).
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