Joseph von Westphalen:
Die Kunst des Seitensprungs

»Mein Herz ist groß«, schreit der Verliebte, »ihr habt doch beide Platz darin!« Aber er schreit vergeblich, er wird nicht verstanden, jedenfalls nicht von seiner Ehefrau. Je größer er sich fühlt, umso kleinkarierter wirkt er auf sie. Als wäre nicht alles hundertmal gesagt, als würden Argumente in dieser Lage nützen, versucht er es anders: »Unser ganzes System ist doch auf Erweiterung ausgerichtet«, ruft er in seiner Not, »Stagnation ist doch das Schlimmste, wir vermehren unser Vermögen und unser Ansehen. Je mehr Bücher wir lesen oder schreiben, umso besser, je mehr wir verdienen, umso besser; und wehe, wer sein Leben lang am selben Ort im selben Job versauert und sich nicht entwickelt; der gilt als Wrack. Nur in der Liebe soll man sich bescheiden, da soll man hübsch zufrieden sein, das ist doch absurd!«

»Hör auf!« sagt seine Frau; er sei doch sonst der erste, der gegen das Wachstumsgefasel zu Felde ziehe. Und nun das. »Sie hat dir ja ganz schön den Kopf verdreht«, sagt sie, »das ist ja richtig reaktionär, was du da von dir gibst!« Im übrigen stimme es nicht, sagt sie, das Wachstum sei ja wohl am Ende, man lebe bekanntlich in einer Wegwerf- und Austausch-Gesellschaft, aber sie lasse nicht zu, daß sie weggeworfen oder ausgetauscht werden solle. Basta.

Sollst du ja eben nicht, denkt er. Darum ging es ja. Aber er sagt jetzt nichts mehr. Es war ein Fehler, mit diesem unsinnigen Vergleich daherzukommen. Aber der noch größere Fehler war es gewesen, überhaupt etwas zu sagen von dieser Geschichte mit der anderen Frau.

Vor sechs Wochen war Harry das Versteckspiel plötzlich zu albern vorgekommen. Schließlich war er ein erwachsener Mann. Er wußte, daß die Liebste am Abend bei ihm zu Hause anrufen würde. Er hatte ihr selbst gesagt, daß er allein sein werde. »Clara geht ins Kino«, hatte er gesagt. Das war auch so ein Scheiß mit der Benennung. Was sollte man sagen, »meine Frau« oder den Vornamen? Beides klang auf verschiedene Art bescheuert: das eine ungewollt ironisch, das andere ungewollt vertraut.

Aber Clara war nicht ins Kino gegangen. Nicht bei diesem Sauwetter. Das Ehepaar las gemütlich Zeitung. Jeder auf seinem Sofa. Das Telefon zwischen ihnen. Er hätte in eine Telefonzelle gehen können, um die Liebste anzurufen und ihr zu sagen, daß sie nicht anrufen könne. Aber das wäre doch hirnverbrannt: jemanden anrufen, damit er nicht anrufen soll. und dann womöglich noch Gründe angeben: weil seine Frau beziehungsweise Clara keine Lust gehabt hätte, ins Kino zu gehen. Aber was ging es die Liebste an, ob Clara Lust hatte, ins Kino zu gehen. Wenn überhaupt, dann würde er Arbeit vorschützen. Arbeit war immer gut. Man machte sich zwar zum Idioten, mit diesen ewigen Arbeitsausreden, aber es war noch am unverfänglichsten .

Seiner Frau Clara log er Arbeit vor, warum sollte er nicht auch seiner Liebsten Eva Arbeit vorlügen! Das wäre nur gerecht. Aber allein, um den Gang zur Telefonzelle zu erklären, müßte er schon wieder eine Lüge erfinden. Ein wichtiger Brief. Aber welcher Brief könnte so wichtig sein? Und was, wenn Clara behauptete, der Postkasten werde abends nicht mehr geleert? Alles verdächtig. Es würde noch so weit kommen, daß er sich einen Hund anschaffte, um jederzeit ohne die Angabe von Gründen aus dem Haus gehen zu können. Vielleicht gab es deswegen so viele Köter in der Stadt? Und wenn er es wirklich fertiggebracht hätte, zur Telefonzelle zu gehen, dann wäre er von dem Lügenballast ganz mürbe und schlecht gelaunt gewesen. Und die Liebste wäre dann auch beleidigt und schlechtgelaunt gewesen. Man hätte sich doch nur über nichts als über die Hindernisse der Liebe unterhalten.

Als das Telefon klingelte, stöhnte Harry wie immer über die Ruhestörung. Sonst sagte er oft »Ich geh' nicht ran«, ehe er ranging. Das war ihm jetzt zu doppeldeutig. Er tat so, als würde er konzentriert lesen. »Faule Sau«, sagte Clara nach dem dritten Klingeln und nahm den Hörer ab. Sein Herz klopfte wild. Er wartete auf Claras erlösenden Satz »Falsch verbunden«, aber sie sagte »Moment mal« und reichte ihm mit einem Schulterzucken den Hörer. Es war tatsächlich die Liebste. Statt aufzulegen, als sie die Stimme seiner Frau vernahm, hatte sie ihn verlangt. Wollte sie ihn quälen? Und nun sagte sie auch noch überflüssigerweise: »Du bist nicht allein?« Fast mahnend. Das hatte sie ja wohl gehört, daß er nicht allein war. »Ich sehne mich so nach dir«, sagte sie, schrecklich laut. Er lachte, auch laut. »Ich verstehe, du kannst nicht sprechen«, sagte sie. Natürlich konnte er nicht sprechen! »Ja, ja, meinetwegen«, sagte er, da könne man in den nächsten Tagen drüber reden. Clara las Zeitung. »Sehen wir uns morgen?« sagte Eva. Es war grausam, das sanfte Flöten mit einem rauhen Geschäftston zu beantworten: »Das kann gut sein, tschüß, auf Wiedersehen.«

Er legte auf und nahm sich vor, später doch noch einmal zur Zelle zu gehen, um einerseits für dies barbarische Gespräch Abbitte zu leisten und sie andererseits anzuflehen, nie wieder anzurufen. Aber wie sollte man sich dann verabreden? Es war teuflisch. Als Clara beiläufig fragte, wer es gewesen sei, war ihm die ganze Heimlichtuerei mit einem Mal unerträglich vorgekommen, und er erzählte alles. Seitdem war die Hölle los. Seitdem nichts als Mißtrauen und Auseinandersetzungen. Hatte er zuvor in seinem Verhältnis zu Eva manchmal schon eine Ahnung vom Ende gespürt, so trieb ihn nun das, was er bei Clara für enge Mißgunst hielt, wieder heftig in die Arme der Liebsten. An beiden Orten wurde nur noch gestöhnt über die Unvereinbarkeit der Gefühle. Hin und wieder verzweifeltes Bestätigungsgevögel. Und in den verschiedenen Wohnungen die immerselben Worte: Besitzansprüche hin und her; Freiheit hin, Freiheit her. »Klammere nicht so!« - »Das muß doch einfach drin sein!« Es half alles nichts. »Eifersucht ist Diebstahl«, sagte er, aber Clara lachte nicht darüber. »Wenn du mich läßt, kann ich dich wieder lieben«, sagte er. »Wenn du mich lieben würdest, dann ließe ich dich«, sagte sie. Das ist die wahre negative Dialektik.

Es handelt sich zweifellos um ein aufgeklärtes Ehepaar. »Faß mich nicht an«, sagt Clara, und umso inniger wird Harry morgen die Liebste anfassen. Die wenigstens hatte dagegen nichts. Wie sie roch! Noch weiß er nicht, daß er sie morgen nicht riechen wird, weil es ihm einfach nicht möglich sein wird, das Haus zu verlassen, wenn Clara ihn anfunkelt und anschreit, ja, er solle nur zu seiner Eva gehen, sie habe nichts dagegen: »Geh doch zu ihr, geh doch, du Arschloch, was zögerst du, warum gehst du denn nicht endlich?« Statt dessen wird er sich auf das Sofa legen und versteinert vor sich hinschauen. Das wird ihm nicht schwer fallen, denn er ist wirklich verzweifelt. Er könnte jetzt Tränenströme aus seinen Augen fließen lassen, aber die wird er zurückhalten. Sie würde ihm blankes Selbstmitleid vorwerfen: »Sieh an, der Kleine weint, weil er sein Spielzeug nicht bekommt!« Und recht hätte sie. Nein, geweint wird nicht, diese neue Weinerei war nichts für ihn. Da war er sich mit Clara übrigens völlig einig. Diese immer feuchter werdenden Plädoyers fur den weinenden Mann waren unsäglich. Vor dem Schlamassel hatten er und Clara sich halb totgelacht über einen Psychogruppen-Werbeprospekt, wo es ohne jede Ironie hieß, es sollten Taschentücher zu dem Treffen mitgebracht werden, denn wenn geweint werde, dann sei schon mal viel geholfen.

Eine Therapie kam übrigens nicht in Frage. Was los ist, weiß man selbst. Man will keine Pfuscher ranlassen. Da ist sich Clara mit ihm einig. Auch eine Trennung steht nicht zur Diskussion. Eine Trennung ist lächerlich. Clara verteidigt ihn sogar bei ihren Freundinnen in diesem Punkt. Einige warnen sie: er wäre nicht der erste, der endgültig Schluß machte, um mit der Liebsten neu anzufangen! Nein, nein, da kennten sie ihn nicht. Sie vertraue ihm, sagt Clara. Aber es ist doch immer ein Risiko, sagt eine.

Claras Freundinnen sind gespalten. Marl hat Mitleid mit ihr, aber man ist nicht empört über Harry. Er leuchtet neuerdings so. Das ist unübersehbar. Verliebte erinnern uns an unsere Sehnsucht. Man beneidet sie. Man nimmt ihnen nicht alles übel. Man möchte ihnen helfen. Man möchte Harry manchmal am liebsten den Schlüssel der Ferienwohnung zustecken.

Er würde das nie sagen: sie könne ihm vertrauen. Der Ausdruck ist ihm zu stickig. Er sagt es anders: »Niemals trennen«, sagt er und schlägt die Hände vors Gesicht: »Denk doch allein an das Trennen der Bibliothek!« Clara weiß, daß das nicht nur ein Witz ist. »Bist du kleinlich«, sagt sie und verbirgt nun auch das Gesicht in den Händen, um ein unvermitteltes Lachen zu verbergen. Daß er so kleinlich ist, macht sie heiter. Das gibt ihr direkt Schwung. Kleinlich war er schon immer. Eigentlich ist es das Kleinliche, das sie an ihm liebt. Aber es sind nicht nur die Bücher, und es ist nicht nur die Bequemlichkeit, die er zu verlieren fürchtet. Er hat auch eine ideologische Basis. Über Scheidung hat er sich schon immer in den höchsten Tonen lustig gemacht. Scheidung, das war etwas für diese klaren Jasager, die dann auch immer wieder mal ein klares Nein sagen wollen. Er jedoch stehe zu seinem völlig undurchsichtigen »Ja«, das er seinerzeit dem Standesbeamten entgegengeknurrt habe. Er sei für unklare Verhältnisse und gegen die Großreinemacher. Schluß mit der Schlußmacherei! Er halte nichts von dem Glauben an den sauberen Schlußstrich. Es sei fatal genug, daß man eines Tages sterben müsse, warum solle man sich schon vorher von irgendwem und von irgendwas trennen. Wer heirate, müsse wissen, was ihn erwarte. Die ganze Weltliteratur sei voll von unglücklichen Ehegeschichten, für jeden Geschmack und jedes Niveau sei reichlich gesorgt; von Courths-Mahler bis Flaubert, von Truffaut bis Ibsen erscheine die Ehe als entsetzliche Fessel, und nur Ausbruch, Fehltritt und Untreue seien das kurze Glück vor dem großen Untergang. Wie könne man erwarten, daß man mit einem anderen Menschen glücklicher werde? Man müsse schon mit der Ausgehöhltheit eines amerikanischen Filmschauspielers geschlagen sein, um das immer noch zu hoffen. Diese unbelehrbaren Traumfraufetischisten!

Bei diesem Thema war Harry oft in Rage geraten, und er hatte seine Zuhörer gehabt. Für die Ehe sei er, obwohl er die Bezeichnungen »meine Frau« und »mein Mann« zwar furchtbar finde, aber eben nicht so furchtbar wie den geläufigen Ausdruck der Unverheirateten, die sich als »Partner« bezeichneten. »Geliebter« oder »Geliebte« finde er zu aufgeblasen, »Gefährte« zu romantisch, »Freund« oder »Freundin« zu blaß. So sei er für die Ehe, die vereinfache das Leben, wie ein Bankkonto den Geldverkehr vereinfache. Von Treue allerdings halte er gar nichts. Erstens müsse jede Institution hintergangen werden, zweitens habe das Wort »Treue« für ihn einen deutschnationalen Beigeschmack, das sei der reinste Germanenschwur, pfui Teufel. Für Scheidung sei er auch deswegen nicht, weil man eine Scheidung, rein sprachlich, vollziehen lassen müsse; man könne sich nicht scheiden man müsse sich scheiden lassen; damit zeige sich deutlich der Fallencharakter der Ehe. Sich von einem Menschen zu trennen, finde er im übrigen unmenschlich. Das Abschneiden einer Beziehung habe in seinen Augen etwas Faschistoides; es gebe keinen Grund, jemanden, den man einmal geliebt oder auch nur gemocht habe, nicht mehr sehen zu wollen; er sei ein Teil der persönlichen Geschichte, und auch wenn er die Inkarnation des Irrtums sei, dürfe man diese irrtümlich geheiratete Person nicht so ohne weiteres zum Teufel jagen. Aus all dem folge, hatte Harry dann am Ende seiner Tiraden mit rot erleuchteten Ohren verkündet, daß man die Ehe nur aushalte, wenn man sich Seitensprünge zugestehe, so aufgeschlossen sei man ja hoffentlich.

Solche Reden hatten Beifall gefunden. Denn theoretisch waren alle liberal und für freie Liebe. Und wenn das Innen- oder Familienministerium zum Schutz der bundesdeutschen Familie ein Gesetz planen würde, das den Seitensprung zur strafbaren Handlung machte, dann würde man sicher nicht zögern, gegen dieses Gesetz auf die Straße zu gehen, wie man in Sachen Abtreibung auf die Straße ging. Wie aber schon die leiseste Schwangerschaft die Abtreibungsfreundinnen zu braven Austrägerinnen des Lebens macht, so bewirkt schon der erste Seitensprung des Ehegatten eine rigorose Umkehr der liberalen Ansichten.

In früheren Jahrhunderten gab es wenigstens noch eine deutliche Kollision von Vernunft und Gefühl, von Moral und Trieb, von privater Leidenschaft und öffentlichem Gerede. Heute gab es nur noch die fade Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis. Theoretisch spricht nichts dagegen. Aber wehe, wenn es geschieht. Dann gerät alles durcheinander, dann bricht das Chaos aus. Einst hatte der betrogene Gatte eine ganze Palette von Maßnahmen für seine Reaktion zur Verfügung. Er konnte den Nebenbuhler zum Duell fordern, seine untreue Frau verstoßen, enterben, erwürgen, verbrennen lassen, ins Kloster werfen oder sich selbst das Leben nehmen. Klare Verhältnisse. Heute muß das Unerträgliche ohne einen hilfreichen Codex ertragen werden. Der Betrogene erfährt von der Gesellschaft und dem Gesetz kaum Rückhalt, aus der Kirche ist er ausgetreten, so daß ihm auch kein Pfarrer mehr beistehen kann. So kommt es zum Psychoterror und Gattenkampf, wie ihn selbst Strindberg sich nicht hätte träumen lassen. Da die alten Regeln über Bord gegangen sind, findet ein Freistilcatch statt, das heißt, der Streit ist stillos geworden.

Harry der Ehebrecher weiß nicht ein noch aus. Er hat zwar die Rolle des klassischen Betrügers, aber er fühlt sich als Betrogener. Das sagt er vorsichtshalber nicht laut. Das wäre zu dreist. Aber es ist so. Er fühlt sich betrogen. Indem ihm Clara seine Liebe zu Eva nicht gönnt, bestiehlt sie ihn, sie betrügt ihn um seine ihm verdammtnochmal zustehende Freiheit, denkt Harry und sagt: »Aber sie nimmt dir doch nichts, nichts, nichts weg!« - »Ich muß noch einkaufen«, sagt Clara. Richtig, er hätte ja einkaufen sollen! In der Tür dreht sie sich noch einmal um: »Ich möchte dich mal sehen, wenn ich einen Geliebten hätte!« - »Das wünsche ich mir sehnlichst«, sagt Harry, und ein bißchen überrascht ist Clara schon, wie ernst und aus der Pistole geschossen das herauskommt. »Warten wir's ab«, sagt sie und geht stolz aus dem Haus.

Sofort ruft Harry bei Eva an. Auch sie ist eine Betrogene. Wenn Clara ihr Portemonnaie vergessen hat und gleich wieder zurückkommt, kann er auch nichts dafür. Das Leben ist hart. Die Liebe ist hart. Indem dir die Gesellschaft die Liebe nicht gönnt, macht sie dich zum Kriminellen. »Gesellschaft«, denkt Harry, um Clara zu schonen. Ist Eva nicht zu Hause? Harry, der eben noch Clara die Eifersucht nicht gönnte, ist plötzlich auf Eva eifersüchtig. Aber Eva ist doch da. »Ich dachte schon, du bist weg«, sagt er heiser. Weil sie auf diese besitzergreifende Einleitung nicht schnippisch reagiert, besorgt er es selbst: »Über Claras Geklammere beschwere ich mich, und selbst will ich mich an dich klammern!« - »Schön!« sagt sie. Er wird zwar lüstern, findet es aber nicht richtig, daß sie sein Grapschen mag. Dann verschieben sie wie üblich die geplante Verabredung. Im Augenblick sei das Clara nicht zuzumuten, sagt er. Ihr Verständnis beruhigt ihn einerseits, andererseits ist es ihm zu leidenschaftslos. Es ist alles ein einziger Krampf. Für alle Beteiligten. Seit Wochen. »Wir müssen es irgendwie lockerer nehmen«, sagt Eva. In jedem Gespräch sagt sie das: Liebe sei doch zum Genießen da, nicht, um sie kaputtzumachen.

Später am Abend, als Clara im Bett war, schrieb Harry an Eva: »Ich will nicht, daß Du meine Liebe genießt. Ich wünsche mir, daß es Dich so wie mich ab und zu beutelt vor Sehnsucht.« Wonach sehnte sich Harry? Das hatte er in Gesprächen mit Clara schon hundertmal gesagt: ab und zu mit Eva zusammen zu sein, und zwar unbeschwert, ohne Angst vor Mißgunst und Eifersucht der Ehefrau. Das sei doch wohl ihre Sache, ob sie eifersüchtig sei, hatte Clara nicht ganz zu Unrecht gesagt. Sein Problem, wenn er darunter zu leiden habe. Es tue ihr sehr leid, daß sie dem empfindlichen Harry mit ihrer Wut das Vögeln mit Eva versauere. Was überhaupt »ab und zu« heiße? Harry fühlte sich immer ganz zermalmt nach solchen Worten, die er als unerträglich polemisch empfand, und hatte schon keine Lust mehr zu antworten. »Ab und zu«, sagt er, »heißt ein-, zweimal in der Woche...« - »O Gott, bist du spießig!« hatte Clara gerufen, »Dienstag und Donnerstag, das Wochenende wird für die Familie frei gehalten, ja?«

Obwohl es doch die einzige Basis in der verstrickten Lage war, daß man sich nicht trennen würde, begann Clara, wenn die Stimmung völlig verbissen war, an dieser letzten gemeinsamen Basis zu rütteln. Zunachst in der rückblickenden Möglichkeitsform: Vielleicht wäre es doch das Beste gewesen, man hätte sich damals schon getrennt, als noch keine Kinder da waren. Und manchmal wurde sie auch direkter: »Ich wünschte, ich hätte die Kraft, mich von dir zu trennen, du scheußlicher Mensch!«

Harry ärgerte sich, weil er glaubte, das seien nur leere Drohfloskeln. Wie konnte man sich etwas wünschen, was man doch nie tun würde! Er wünschte sich nur Sachen, die er tun wollte. Nein, er wünschte sich, daß Clara etwas duldete, was sie offenbar niemals dulden würde. Sie war insofern tatsächlich die falsche Frau für ihn, weil es ihr nicht möglich war, ihm einen Sprung zur Seite zu gönnen. In solch trüben Stunden ertappte sich Harry dann doch bei Trennungsphantasien: endlich Schluß mit diesem unwürdigen Gezänk, raus aus diesem Käfig! Nicht, daß Harry plötzlich an das große Glück geglaubt hätte, er sehnte sich nur nach einer anderen Art von Unglück: entweder gänzlich allein und verlassen vor sich hinzuschlampen oder mit Eva zusammenzuleben und endlich einmal andere Konflikte zu haben, andere Mißstimmungen, andere Reibungen.

Die Freunde nahmen regen Anteil an dem ehelichen Drama. Wenn Clara davon sprach, verstand sie oft selbst nicht, was sie gegen Harrys Gelüste hatte; sie nahm ihn manchmal tatsächlich in Schutz, wie man einen charmanten Ehebrecher in einem Theaterstück in Schutz nimmt. Wenn Harry seinerseits von seiner Flamme sprach, schilderte auch er die Komplikationen mit Distanz, als wäre es eine Komödie. Er leuchtete, wenn er von Eva sprach, weil ihm die Sehnsucht nach Liebe aus den Augen sprang. Seine Zuhörer und durchaus auch seine Zuhörerinnen beneideten ihn geradezu um das Glück, verliebt zu sein. und dieser freundliche Neid ließ Harry ganz vergessen und verschweigen, daß sein Ehedrama nicht darin bestand, daß er ein sogenanntes Verhältnis hatte, sondern daß ein Verhältnis vor lauter Hindernissen nicht recht zustande kam. Die verzweifelte Verliebtheit, die er tatsächlich in sich trug, konnte er bei Eva nicht loswerden, also wurde er sie los, wenn er von seinem Gefühl zu Eva erzählte. Dann strahlte der arme Mann etwas aus, was er selbst gar nicht besaß, erinnerte andere an ihre lahmen und lustlosen Ehen und weckte in ihnen die Sehnsucht nach Liebesabenteuern. Alles war eine einzige große Lüge.

Und schuld war diese verdammte Offenheit. Hätte er nur nie etwas gesagt! Das kindische Versteckspiel war paradiesisch gewesen, verglichen mit diesem offen daliegenden Trümmerfeld. Nicht der Seitensprung war unzumutbar, wie Clara meinte, sondern die Offenheit. Es war in der Tat unzumutbar, mit nur mühsam getarnter Vorfreude das Haus zu verlassen, in dem man eine Ehefrau zurückließ, die wußte, wo man jetzt hinging; die so tat, als ob sie lese oder fernsehe und jetzt endlich in Ruhe gelassen werden wolle von ihrem läufigen Mann, der sich vorher wenigstens nicht gewaschen und rasiert und umgezogen hatte, um den Schmerz seiner Frau durch diese Rituale nicht noch zu vergrößern. Im Stall der Ehe sich auch noch herauszuputzen für den Ehebruch, das hätte Harry nicht fertiggebracht. So geht er stinkend und schmuddelig zur Liebsten, die auch lieber einen duftenden Helden empfinge, und er denkt dauernd, was seine Frau wohl zu Hause macht, der er doch nicht weh tun will. Die Offenheit war sadistisch, und auch die Sprache der Offenheit war unerträglich. Wenn Harry nur Worte wie »ausleben« und »verwirklichen« hörte, drehte sich ihm der Magen um. Leider gebrauchte vor allem Eva diese Worte. Aber da er sie liebte, verzieh er ihr. Clara hatte wie er nichts als Hohn für den Psycho- und Beziehungskisten-Wortschatz übrig. Deswegen verstand er sich ja so gut mit ihr. Deswegen wollte er sich nie von ihr trennen. Sie war eine wunderbare Komplizin. Eine bessere Frau gab es nicht. Auch nicht im Bett übrigens, wie man so sagt. Aber sie konnte ihm doch nicht ein und alles sein wollen! Warum war sie denn in diesem Punkt so entsetzlich kleinkariert.

Zu Weihnachten bekam das gequälte Ehepaar von den verschiedenen Freunden mit milder Ironie die Beziehungskisten-Bestseller der Saison geschenkt. Daß die meisten Bucher auf seiner Seite waren, tröstete Harry wenig. Es wurde empfohlen, mit der Eifersucht irgendwie fertig zu werden und sie als eine normale Reaktion auf den ebenfalls völlig normalen Seitensprung in sein normales Leben zu integrieren. All diese Therapeuten und Analytiker und Eheberater hatten von Tuten und Blasen keine Ahnung, fand Harry. Sie proklamierten die offene Ehe, die fruchtbare Auseinandersetzung, die innere Trennung, um die äußere zu vermeiden, und wenn es gar nicht mehr anders gehe, im psychologischen Härtefall, dann eben die Trennung. Man könne ja immer noch gut befreundet bleiben. Nichts unterschied dieses Geschwafel von dem, was in jeder lllustrierten zu lesen stand. Harry war angewidert davon, sein derzeitiges Problem derart seicht abgehandelt zu finden. Es verdroß ihn überhaupt, daß er als untreuer Mann ein klassisches Klischee erfüllte. Origineller wäre es zweifellos, ein treuer Mann zu sein und eine glückliche monogame Ehe zu führen.

Und wenn das nicht ging, wenn einem das nicht möglich war, wenn man sich anderen Reizen nicht verschließen konnte, dann mußte man es heimlich tun, ganz wie im 19. Jahrhundert. Harry erschauerte. Denn dies war ja nun in der Tat ein reaktionärer Gedanke. Aber besser, sich nach Strich und Faden zu betrügen und anzulügen, als sich offen irgendwelche angelernten Wahrheiten ins Gesicht zu schreien, irgendein von Psychologen ausgehecktes Bedürfnisvokabular, das allenfalls für die Sprechblasen von Witzzeichnungen taugte. Alles offen, aber nichts wahr. Er haßte diese Leute, die von ihren Psychogruppen erzählten, in denen man lernte, sich anzuschreien, daß man sich nicht mehr sehen wolle. Nachher käme man sich so dufte und befreit vor. Das war nun noch kindischer als die kindischste Heuchelei. Harry und Clara machten sich in den Weihnachtsfeiertagen gemeinsam über die ihnen geschenkten Bücher lustig. Von Freud bis zu dem »weltberühmten Sexualwissenschaftler« Ernest Borneman, von Erich Fromm bis zu den Eifersuchtsschinken von Hildegard Baumgart und Nancy Friday wurde alles als untauglich befunden.

Wenn Clara ihn nach Eva fragte, gewöhnte er sich an zu sagen: »Ich weiß nicht.« - Das war wenigstens die Wahrheit. Harry der Sokratiker. Was wußte er denn. Liebte er Eva oder Clara, oder beide oder wie oder was? Und was war denn überhaupt Liebe? Keine Rechenschaft mehr. Keine idiotischen Unterscheidungen mehr: nein, er liebe sie nicht, nein, er sei nur verliebt in Eva, aber eigentlich vielleicht auch das nicht. Liebte man, wenn man verliebt ins außereheliche Bett stieg? Eine Zeitlang hatte er durchblicken lassen, er sei in Eva verliebt - was für eine unnötige Quälerei. Es wäre Clara lieber gewesen, Harry als einen dieser unverbesserlichen Männer zu verachten, die ab und zu eine andere Frau brauchten. Das war aber von so schmieriger Bürgerlichkeit, Harry haßte den Typus des herzlosen Herumvöglers so sehr, daß er es nicht fertiggebracht hatte, sich als solchen zu stilisieren, um Clara zu schonen.

Es gab auch ein Buch, das sich Die Utopie der Treue nannte, und das Harry aufgrund seines Titels nicht einmal aufschlug. Eine Utopie war für ihn immer noch etwas, das man anstrebte. Und nach wie vor war nicht Treue das Ziel seiner Wünsche, sondern der gelungene Seitensprung. Sein eigener völlig mißlungener und quälender Seitensprung hatte ihm gezeigt, welche Kunstfertigkeit für ein solches Unternehmen nötig war. Nach all seinen bisherigen Erfahrungen war er bereits soweit resigniert, daß er den offenen Seitensprung für unrealisierbar hielt. Der durfte ja nun nichts Pseudoaufgeklärtes, nichts Tolerantliberales an sich haben, nichts Illustriertenhaftes, nichts Sach- und Ratgeberbuchhaftes, nichts Fernsehspielhaftes. Keinerlei Klischees. Also auch keine unglückliche Ehe, die gelegentliche Ausbrüche nötig macht. Das alles war so entsetzlich üblich. Aber natürlich war es so, daß gerade die triste Ehe, die den Seitensprung nötig macht, ihn gleichzeitig eifersüchtig behinderte. Der Seitensprung war offen nur vertretbar, wenn er aus der glücklichen Ehe kam und die Ehefrau nicht um die Rückkehr ihres treulosen Gatten bangen mußte. Aber eben dann würde der Seitensprung gar nicht nötig sein. Wäre er nur eine schöne Dreingäbe zum ehelichen Glück, dann hätte er etwas unerträglich Genießerisches. Man mußte diese andere Frau schon rasend begehren, sonst konnte man es gleich bleiben lassen. Und eben das rasende Begehren kann die Gattin kaum kalt lassen. Laßt sie es doch kalt, dann stimmt auch wieder etwas nicht.

Wie aber hat sich die ideale Gattin beim idealen, offen durchgeführten Seitensprung zu verhalten? Mit welchem Gesichtsausdruck, mit welchen Bemerkungen entläßt sie den treulosen Mann, und wie empfängt sie ihn, wenn er morgens um sechs nach Hause kommt? Sie soll es ihm einfach gönnen, wie man jemandem, den man liebt, etwas gönnt. Gab es das? Was wäre Harry am liebsten, wenn er es sich aussuchen könnte? Er verläßt um acht Uhr abends das Haus, nachdem er die Spülmaschine eingeräumt und angestellt hat, um ein gewisses häusliches Pflichtbewußtsein zu zeigen. Clara muß sich noch auf irgend etwas vorbereiten und könnte heute abend sowieso nicht ausgehen. Sie ist auch etwas müde nach einem anstrengenden Tag. »Scheißkerl!« sagt sie, kopfschüttelnd, aber nicht empört. Es fallen keine Namen. »Viel Spaß!« sagt sie mit angemessener Ironie. Und nachdem er sich die ganze Nacht mit Eva ausgetobt hat und sie sich schluchzend vor Glück aneinandergeworfen haben, kommt er morgens um sechs nach Hause. Er räumt die Spülmaschine aus, schön leise, dann geht er ins eheliche Schlafzimmer. Clara erwacht und empfängt ihn mit mildem Spott. Sie knutschen ein bißchen rum. »Du stinkst«, sagt Clara. Man befindet sich einfachheitshalber noch in der Ära vor Aids. Harry wäscht sich und steigt zu Clara ins Bett. Sie pisakt ihn ironisch und macht eine zotige Anspielung: »Na, noch Saft drin, alter Knacker?« Und dann fangen sie an zu vögeln. Schön, wie sich aus der anfänglichen Ironie das ernste Schnaufen der Lust entwickelt. Mittendrin wirft ihn Clara runter und sagt, er solle bei ihrem Brötchengeber anrufen, sie sei krank. Harry hüpft mit seinem Stehpimmel zum Telefon und entschuldigt sie. Dann machen sie weiter. Sie reden jetzt nichts und sind ziemlich glücklich. Beide denken sie dasselbe: so kann es nur ein altes Ehepaar treiben.

Das ist Harrys Traum der idealen Seitensprungnacht. Früher hatte er immer geträumt, Eva und Clara in einem Bett zusammenzuführen. Denn nur in dieser Konstellation schien es keinerlei Trennung zu geben, und also für alle Beteiligten am wenigsten Schmerz und am meisten Lust. Das hatte er beiden auch hartnäckig vorgeschlagen, war aber auf beiden Seiten auf Widerstand gestoßen. Nur einmal war es tatsächlich dazu gekommen. Offenbar ein Initiationsritual. Aber das Klischee vom sogenannten Gruppensex war noch belastender als das vom normalen Seitensprung. Die Wirklichkeit sah anders aus. Realisierbar war tatsächlich nur der heimliche Seitensprung. Der fiese, alte, reaktionäre Betrug war letztlich weniger betrügerisch als alles andere. Man mußte die Kraft zum Heuchler haben. Man mußte das Lügen wieder lernen. Die ganze Liebelei war sowieso ein undurchschaubares Gewirr von Lügen und Halblügen und ein trüber Brei von Hoffnungen und Unwissen, von Mißtrauen und Vertrauen, von viel Einbildung und wenig Wirklichkeit. Es hatte keinen Sinn, für Klarheit zu sorgen. Im Gegenteil: man mußte noch mehr Verwirrung stiften. Rein in den Wahn! Man mußte es so weit treiben, daß man nicht mehr wußte, ob man eine andere Frau liebte, ob und wo man mit ihr geschlafen hatte oder nicht. Was spielte es auch für eine Rolle, ob man mit einer anderen Frau schlafen wollte oder ob man es tat? Beging nicht laut Bibel schon der Ehebruch, der lüstern ein andres Weib anschaut? Nein, mit der Bibel wollte Harry nun nicht daherkommen, das ging zu weit. Auf alle Fälle nahm er sich vor, die Spuren zu verwischen und für Unklarheit zu sorgen. Die Liebe war ein einziger Betrug, und da mußte man sich betrügerisch verhalten. Nur so kam man da durch. Und wenn Clara fragen würde, wo er gewesen sei, dann würde er lügen. Und wenn es sich nicht mehr abstreiten ließe, dann wurde er wenigstens sagen, daß es furchtbar war mit Eva, der reinste Krampf, eine Horrorvögelei; auch wenn es das schönste Geschling war, würde er es madig machen, um weniger weh zu tun.

Lieber die unsinnigsten und herkömmlichsten Ausreden, die dümmlichsten Geschäftsreisen vorschützen, als offen und trotzig das Freiheitsrecht zu behaupten: also tschüß jetzt, ich bin heute mit Eva verabredet. Das nie mehr. Jedenfalls nicht mit Clara als Frau. Und wenn er jetzt eine wahrhaft reaktionäre Haltung zur Ehe einnahm, dann, sagte er sich, sei dies nur die Antwort auf Claras fehlende Toleranz. Wenn sie auf vorsintflutliche Art und Weise seine Freiheiten mißbilligte, dann mußte sie auch die Regeln der Aufgeklärtheit mißbilligen.

Nun schweigt Harry, und man weiß nicht recht, wie es ihm innen geht. Er spricht nicht mehr darüber. Irgendwann hatte Clara einmal im Zorn gesagt, sie wolle den Namen Eva nie wieder hören, und Harry hält sich daran. Er hat Eva einen langen Brief geschrieben, auch hier kein Schlußstrich, beileibe nicht. Harry macht nie Schluß. Er hat sie, ist zu erfahren, gebeten, ein bißchen zu warten. Wie sie wisse, liebe er sie, und er liebe auch seine Frau, und er sehe darin nach wie vor keinen Widerspruch, und im Augenblick beginne sich die eheliche Situation zu normalisieren. Sie möge bitte ein wenig Geduld haben. Es müsse eine neue Ebene gefunden werden. Er sehne sich nach ihr und werde täglich an sie denken. Er werde bis zu seinem verdammten Tod daran glauben, daß man verschiedene Menschen lieben könne. Ja, »lieben« schrieb er. Sie solle sich endlich einmal das entsetzliche Wort »Beziehung« abgewöhnen. Er freue sich rasend darauf, sie in einem halben Jahr oder so wiederzusehen. Er brauche jetzt einfach Zeit. Es sei jedoch etwas Schönes gewesen, wie sich die Pärchen einst Versprechen gegeben hätten. Und er verspreche ihr, daß er in einigen Monaten wieder auftauchen werde, und wenn ein anderer da sei, nehme er ihr das nicht übel. Ein sehr auf- und abgeklärter Brief, den Harry da geschrieben hatte und der ihm innere Ruhe verschaffte.

Er wurde jetzt ganz milde und umgänglich, sanft und freundlich zu Clara. Statt abends wegzugehen und wegzubleiben, begann er zu lesen. Er las unentwegt, nächtelang, und wenn sich Clara darüber beklagte, daß er nicht ins Bett kam, dann wurde er unwirsch und sagte, lesen werde er doch wohl noch dürfen!

Mit diesen Leseexzessen wollte er keineswegs Clara bestrafen. Er trieb vielmehr Liebesforschungen anhand der Weltliteratur. Harry nahm einen Roman von Madame de La Fayette zur Hand, Die Prinzessin von Clèves von 1678. In diesem im Umkreis des französischen Hofes spielenden Liebesroman fand er sich und seine Gefühle eher wieder als in den Beziehungsgeschichten von heute. Da war zu lesen, wie Liebe entsteht und wie sie genährt wird. Immer sind es Mißverstandnisse, immer ist die Geliebte unerreichbar. Einer ist immer gebunden. Immer werden verräterische Briefe entdeckt. »Dies Gefühl der Erkenntlichkeit gab ihren Worten eine Wärme die schon hinreicht, in einem so leidenschaftlich verliebten Manne Hoffnungen zu erwecken.« Eine so begonnene Ehe kann nicht gut gehen. Später heißt es: »Das Unglück ertragen zu müssen, daß er seine Frau, die er leidenschaftlich anbetete, von Leidenschaft für einen anderen ergriffen sah, hatte die ganze Willenskraft des Prinzen aufgezehrt.« - so mochte sich Clara gegrämt haben, weil er in Eva verschossen oder verknallt oder verliebt oder gottweißwas war. Auch in diesem Roman fand eigentlich nichts statt. Es ist Liebe da, die nie ausgeübt wird und daher umso langlebiger vor sich hinschmort. Der Betrug findet im Kopf statt oder im Herzen, jedenfalls nicht in irgendeinem Bett. Uralte Sittengesetze verboten diesen Seitensprung, aber obwohl sich die Moralvorstellungen völlig verändert hatten, waren die Hindernisse heute ähnlich, fand Harry. Sie hatten sich nicht in ihrer Höhe geändert, nur in ihrem Wesen: aus moralischen Hindernissen waren psychologische geworden; die waren noch unüberwindlicher, wie es Harry schien. Ein sauberes Verbot ließe sich wenigstens umgehen.

Harry schickte Die Prinzessin von Clèves, die er reich mit Anmerkungen versehen hatte, an Eva. »Lies das bitte, aber antworte nicht«, schrieb er dazu. Tatsächlich war er sicher, daß die Ankunft eines Briefes von Eva sofern von Clara entdeckt, sofort wieder zu unangenehmen Fragen und schließlich zu einem Wiederaufflackern der Mißstimmung führen würde. Diese gottverdammten Briefe konnten heute denselben Schaden anrichten wie 1678, es war unausstehlich. Und um 1890, als Fontane seinen Baron Innstetten im Schreibtisch seiner Frau Effi uralte und völlig harmlose Liebesbriefe entdecken laßt, gibt es nur eines: den Schreiber der Zeilen zum Duell zu fordern. Barbarische Rituale, und doch empfand es Harry als ebenso barbarisch, daß heute zwei verheiratete oder sonstwie zusammenlebende Menschen aus den verschiedensten Gründen zur Treue gezwungen waren, wenn sie sich nicht aufreiben wollten. Und wenn sie sich nicht aufrieben, wenn sie es kaugummikauend hinnahmen, dann nahmen sie anders Schaden, dann bekamen sie so etwas Dreistbumsiges, so etwas schnurrbärtig Gruppensexhaftes, das auch den Liebhaber der großen Freiheiten nur noch abstößt.

Harry verschlang wie ein junges Mädchen mit roten Backen, wie der Ehebruch und schon der Gedanke daran alle zum Erblühen bringt: Madame Bovary, Effi Briest, Anna Karenina, Madame de Rênal aus Rot und Schwarz oder Lady Chatterly: sie alle leben in ihren Provinzkaffern auf und sehen wieder Sinn im Dasein, wenn der Geliebte sich nähert. Sie haben Angst vor seinen Besuchen und seinen Briefen und sehnen sich danach, es geht immer hin und her. Sie alle sehen die Gefahr: »Und dann plötzlich stand das furchtbare Wort Ehebruch da. Sie sah im Geiste alles, was schmähliche Ausschweifung dem Gedanken an sinnliche Liebe an Ekelhaftem anzuhaften vermag... Bald fürchtete sie, nicht geliebt zu werden, dann wieder peinigte sie der entsetzliche Gedanke von Schuld und Sünde« (Rot und Schwarz). Alle haben sie Skrupel, aber alle werden sie die Nächte genießen. Sie werden im Dunklen huschen und später sogar am Tag, sie werden ihre Spuren verwischen und Lügen und Ausreden erfinden. Nur heuchelnd und in der Heimlichkeit gedeihen alle diese Lieben. Diese Frauen brauchen nicht etwa die Heimlichkeit zur Reizsteigerung; die Heimlichkeit ist Effi Briest, der bravsten von ihnen, sehr zuwider. Aber die Heimlichkeit ist die Bedingung. Ohne Versteck hat die Liebe keinen Platz. Sie alle denken voll Glut an die letzte Umarmung und weichen den Augen ihrer Gatten aus.

Er las und las, und eines Tages wurde Clara der ewig lesende Mann zuviel. Sie kam am Abend nicht wieder aus dem Kino. Erst am Morgen um acht hörte Harry eine fremde Autotür schlagen, und Clara kam aufgedreht herein. Harry war vor allem erfreut über seine Reaktion: Es machte ihm nichts aus. Als Clara mit unverschämt guter Laune in die Badewanne stieg, schloß er die Augen und horchte in sich hinein. Aber da war keine Eifersucht. Er war froh, daß er nicht zu den Männern gehörte, die er auf den Tod nicht ausstehen konnte: die mit anderen Frauen schlafen, aber beim kleinsten Abenteuer ihrer eigenen Frauen Schreikrämpfe oder zumindest Kullertränen in die Augen kriegen. Nein, so war Harry nicht. Aber als Clara ihm fröhlich zurief, er solle zu ihr in die Wanne steigen, war ihm das doch etwas zuviel.

Vier Wochen lang blieb Clara jede Nacht weg. »Ich muß aufholen«, sagte sie. Sie ärgerte sich darüber, daß Harry sie nicht ausfragte. Ich liebe ihn jedenfalls nicht, sagte sie, um gleich klarzustellen, sie könnte jederzeit aufhören, wenn Harry sie darum bäte. Harry machte eine Grimasse. Er hatte Lust, mit der erblühten Clara zu schlafen, die das auch erwartete, war sich aber doch zu fein. Zu fein war er sich auch, sich bei Eva zu melden. Er hätte wunderbar in den Nächten, in denen Clara außer Haus war, Eva besuchen oder sie gar bei sich empfangen können. Aber ein Ehepaar, das sich zur selben Stunde mit anderen Liebschaften in anderen Betten wälzt, das war ihm dann doch zu dreist und zu aufgeschlossen. Vielleicht traf er sich auch mit Eva. Jetzt, wo Harry dicht hielt, war wenig zu erfahren.

Clara kam wie immer in letzter Zeit um acht nach Hause. Sie war niedergeschlagen und sagte: »Ich habe gehofft, daß ich dich mit meinen Eskapaden wieder an mich binde, aber du bist wohl ziemlich gefühllos.« Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Diesmal ging er mit ihr in die Wanne und las ihr dort einen Satz aus dem Ehebüchlein von Albrecht von Eyb (1420) vor: »Wenn ein Mann die Ehe bricht und die Frau das erfährt, so war das ein Spiel und ein Spaß gewesen und bleibt ungestraft. Geht aber die Frau nur einmal aus dem Haus, so hat sie schon Unrecht begangen und wird bestraft.« - »Siehste«, sagte Clara. »Was heißt siehste?« sagte Harry; ob sie denn nicht merke, daß es bei ihnen genau umgekehrt sei, wie? Jahrhundertelang sei es wohl tatsächlich so gewesen, und es gebe sicher genügend Familien, wo es noch immer so sei, wo der Mann nach wie vor das dumme Schwein sei, das seiner Frau nicht gönne, was er sich selbst herausnehme; bei ihnen selbst aber könne man das wohl nicht sagen, oder? »Na und!« sagte Clara. Das warme Wasser und die Seife schienen sie mehr zu interessieren als Harrys kulturgeschichtliche Auslassungen. Dennoch fuhr er fort: »Die großen schönen und natürlich auch tragisch endenden Liebesgeschichten in der Literatur hatten immer verheiratete Frauen. Nur bei ihnen konnte die Liebesgeschichte groß, schön und spannend werden, nur da gab es Zittern und Heimlichkeit, Flattermagen und weiche Knie. Daher sprach man im 19. Jahrhundert auch von einem Roman, wenn eine Frau ein Verhältnis hatte. Ein Mann hatte nie einen Roman; dazu langte es nicht.« - »Ach Gottchen«, sagte Clara und seifte sich. Aber Harry wollte seine mühsam konstruierte Theorie zu Ende bringen, Eva würde sich noch weniger dafür interessieren: Ein Mann habe bisher Seitensprünge gemacht, die willig oder unwillig geduldet worden seien, sagte er. Tolstois Anna Karenina beginne mit dem Seitensprung eines Mannes: Der Gutsherr vögelt mit der Gouvernante. Ein paar Tage lang ist seine Frau sauer und bockt. Mehr nicht. Ein lächerlicher Fehltritt, der nur die Funktion habe, Anna Kareninas Ehebruch leitmotivisch anzukündigen, der sich dann über tausend Seiten ausstrecke. Harry richtete sich in der Wanne auf: »Durch eure Frauenemanzipation ist euch dasselbe Recht zugefallen, das sich die Männer immer herausgenommen hatten.« Clara habe ja wohl eben von diesem Recht Gebrauch gemacht, sie habe damit kein Unrecht mehr begangen und werde nicht bestraft, oder? Aber leider habe er das Gefühl, daß der Spieß nur herumgedreht worden sei. Das Unrecht habe jetzt er begangen, als er mit Eva etwas gehabt habe. »Weil es nämlich ein Roman war, und kein Seitensprung«, sagte Harry. Aber er habe keine Vorlage und tue sich daher besonders schwer. Denn es gebe keinen großen Männer-Ehebrecherroman. Nora und auch Emma Bovary, Lady Chatterly und Anna Karenina seien mythenbildende Frauenfiguren gewesen, die vorgeführt hätten, wie sie sich aus den penetranten Fesseln ihrer Männer und der herrschenden Moral freizukämpfen versuchten. Heute sei es der Mann, der auf andere Art sich gefesselt fühle, schon durch seinen Wiedergutmachungsdruck. »Was heute für dich als Frau eine Befreiung ist, ist für mich als Mann ein Rückfall«, sagte Harry. Da stimme doch etwas nicht. Über den Mann in dieser Klemme gebe es keine vernünftige Literatur. Es gebe nur miese Illustriertenserien über die heimliche Geliebte. Es gebe diese Sachbücher mit dem widerwärtigen Ratgeberton. Und es gebe diese unsäglichen sogenannten »Verständigungstexte«. Dies alles habe keinerlei Niveau. »Es kommt darauf an«, sagte Harry, »den Seitensprung aus den Fängen Oswald Kolles, der Bunten und des Stern zu befreien.« Clara schäumte wortlos ihr Haar und sah dabei wie immer ganz fremd aus. Warum sah Eva immer so besonders toll aus, wenn sie sich die Haare wusch? Harry fuhr fort: »Derselbe Rock von C & A, der uns bei der Ehefrau langweilt, entzückt uns, wenn ihn die Geliebte trägt, selbst wenn sie den weniger schönen Hintern hat.« Diese Ungerechtigkeit, diese Niedertracht verlange nach wirklich kunstvoller Beschreibung. Zur Hölle mit den Lebenshilfebüchern. Wo sei der Roman, der den großen Liebessalat am Ende des 20. Jahrhunderts treffend schildere, diese Verfilzung von Reaktion und Fortschritt, diese Soße widersprüchlicher Gefühle? Das Tappen durch das große Dilemma müsse verbindlich dargestellt werden, ohne diesen Quark der goetheschen Entsagung. Als wittere er eine Lösung, geriet Harry in heftiges Gestikulieren. Badewasser spritzte in Claras Augen. »Paß doch auf«, sagte sie, und er fuhr fort: »Heute gibt es keine Angst mehr vor der Sünde. Es gibt nur noch die Angst, spießig zu sein. Das ist doch ein Wahnsinnsthema. Diese Problemverlagerung!« Wenn man aber heute den Liebesaffairen einen Mangel an Galanterie vorwerfe, dann zögen morgen die Zeitschriften die nächste Trend-Serie aus der Schublade, in denen die »Neue Galanterie« mitsamt der Wiederkehr des Handkusses verkündet werde. Die Knechtung der Verliebten durch all diese erbärmlichen Zwänge müsse endlich ihre angemessene literarische Darstellung finden. In der Fiktion sei die Liebe sowieso am besten aufgehoben, da sie ja selbst einen reichlich fiktiven Charakter habe. Die Zeit sei reif für den großen Roman, in dem, sagte Harry und starrte Clara nun an wie ein Schlangenbeschwörer, »in dem ein aufgeklärter Ehebrecher durch die Umstände gezwungen wird, die Ideale der Aufklämng zu verraten und sich selbst und andere zu belügen, um Teile seiner Liebe vor dem tödlichen Verzicht zu retten.« - »Schreib du diesen Roman bitte nicht«. sagte Clara.


Quelle:
Kursbuch #87: Trennungen. Rotbuch Verlag Berlin. März 1987. Seite 61 bis 75. AGB Soz 165/372.
Autor:
Joseph von Westphalen (* 1945)
Internetausgabe:
roman@czyborra.com, 1999-02-20